… der Horizont kippt

Am 6.4.2016 um 20 Uhr war ich bei ihrer Lesung im Buchcafé Antiquarius, Bonner Talweg 14, 53113 Bonn. Ein paar Straßen weiter wohne ich. Es war der Tag meines Geburtstags. Egal. Primzahl unter 100. Ich feiere sowieso erst am Wochenende. Also hin zum Antiquarius.

Die kleine enge Bude war picke packe rappelvoll. 30 plus. Alter auch. 30 plus bis 40 plus. Ich dann absolute Altersspitze. Primzahl unter 100, hinter mir liegen schon 19, vor mir nur noch 6 weitere. 

Die KRITISCHE AUSGABE, Lit. Zs. der Fachschaft Germanistik, Bonner Uni, moderierte an. In der neuesten, jetzt erschienenen Ausgabe steht eine philologische Rezension von Julias erstem Gedichtband. Der Autor der Rezension, Fabian Beer, gibt Julia das Wort.

Nun liest sie. Stellt ihren Gedichtband vor. Ich erlebte sie vor ungefähr 10 Jahren in Köln, als sie ihre Gedichte und Lieder im DUDDLE vortrug. Ich dachte: Sie sieht eigentlich immer noch so aus wie damals, nur singt sie (leider) nicht mehr. Jetzt ist ihr Auftritt viel bescheidener, das ist nicht falsch, – sie ist vorsichtig.

Der Rezensent der KRITISCHEN AUSGABE lächelt hin und wieder in mitverstehendem Wissen bei dem ein oder anderen Vers.

Das erste Gedicht, das Julia liest, ist vielleicht das beste, dachte ich, es ist das erste in ihrem Buch:

Paradies

Wenn sich deine Augen manchmal aufklappen,

sperrangelweit, und der Horizont in sie kippt,

denn wie sollte die Ferne sonst zu dir gelangen?

(„Zum Begreifen nah“ heißt Julias Buch …)

– dann sehe ich gerne hinein, denn sie spiegeln

ungeahnte Theorien von Schwarzen Löchern,

(man beachte die poetologischen Anspielungen!)

achtsam geschmeckten Rosinen oder einfach

Pupillen, die du mit deinen Äpfeln herumrollst,

in die ich beißen würde, wenn ich könnte,

(immer noch poetologisch gemeint – Rosinen, Äpfel, Synthese von Sinn und Sinn … :-)

und alle Fehler einfach wiederholen, ganz egal.

(Ganz egal! Wir sehen: Was sich parodieren lässt, hat Substanz.)

Wenn ich das kleine Haus dort hinten wäre,

an dem dein Blick sich lautlos verfängt.

Und sowieso würde ich vorschlagen,

das Meckern der Schlange zu ignorieren.

(Schlange! Subtile Ambivalenz! Das weiblich Böse und die hoffnungslos Wartenden.)

In der erwartbar akademisch formulierten Rezension Fabian Beers wird die Autorin zitiert: ihre lyrische Intention sei es nicht, die Welt mimetisch im Sinne von Aristoteles abzubilden, sie wolle „mit einem geöffneten Sinnangebot in Spannung treten“. Das heißt: sie will die polysemantische Wirkung der Sprache so organisieren, dass mehr als nur das Wesen einer Situation, eines Sachverhalts lesbar wird. Dergestalt, dass der Leser sich selbst dem Begreifen näher bringt, indem er das gelesene Gedicht in seiner eigenen Sprache nachspricht, mit Worten oder Ideen. Das sind keine neuen Dinge in der Lyrik, aber die Autorin zeigt, dass sie weiß, wie und was sie schreibt. Sie hat sich freigeschwommen aus dem kleinen Pool liedhafter Verse in der Zeit ihres Beginnens vor ungefähr zehn Jahren. Die Gedichte sind nun wesentlich subtiler, sie setzen darauf, dass sich komplexe Metaphern beim Lesen multiplizieren, aber man muss das nicht ausrechnen. Julia Trompeters Gedichte sind voll von solchen spielerischen Wirklichkeits- und Perspektivenverfremdungen, die den Leser seinen Erkenntnissen näher bringt.

Leicht sind diese Gedichte nicht, zumal sie poetologische Metaebenen und Selbstkommentierungen enthalten. Hermetisch wirken jedoch nur einzelne Stellen – und man muss auch nie das ganze Gedicht in philologischer Vollendung kapieren. Anders betrachtet: Wer könnte meine Lesart widerlegen,  angesichts der gewollten und ungewollt sich ergebenden Komplexität der Gedichte?  Schon die Nähe meines ‚Verstehensgedichts’ zum gelesenen reicht – und so sind wir wieder beim Titel des Lyrikbands.   

Was soll ich sagen. Alles in allem ein reicher Gedichtband – rund 100 Seiten. Eingeteilt in 5 Abschnitte.

Zum Begreifen nah.

Sieben Lamellen.

Ein freischwebender Ton.

Aus gekachelten Nestern.

Feldforschung, gelichtet.

Ordnung muss sein. Aber hier gar nicht ernst gemeint. Gut so.

In der Pause unterhielt ich mich mit Julia. Sie hat gute Erinnerungen an kv. In den frühen Jahren waren die Kommentare erfreulich fair, meint sie. Ich sagte: Ja, das war einmal. Im Moment geht es wieder ganz gut.

Ich sage: kv ist gut für um zu wissen, wie mein Text ankommt. Und das ist eigentlich nur bei kv so direkt möglich.

Was wird aus Julia? – Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gefragt. Ich ahne: Sicher noch ein Buch. Standbein: Wissenschaft oder sowas in der Art.

Jedenfalls: Ein subtil formulierter Gedichtband. Eine sympathische Autorin. Ein wundervolles Wiedersehen nach zehn Jahren!

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Nun ist im Verlag Schöffling & Co. Julias erster Lyrikband „Zum Begreifen nah“ erschienen.