Überfahrt

 

Als die Großmutter starb, lag das Land nicht im Schatten, wie es die großen Dichter beschreiben, wenn der Welt und einem ihrer Wesen Ungerechtigkeit widerfährt. Es war Ende August, der Hochsommer neigte sich schon und verbrühte den Landstrich mit Sonne und giftigen Gewittern. Ich war mit meiner Familie auf der Flucht gewesen; heute denke ich, es war die Flucht vor dem Unvermeidlichen, denn das kommende Ende der Großmutter sah außer mir jeder. Während wir an der Ostseeküste kantiges Streicheis – ‚kakaowy‘ und ‚vanillowy‘ – fraßen, lag die Großmutter im sächsischen E. auf einem Meer aus Schmerzen und begann zu versinken; ihr zerfressener Leib wechselte bereits die Ufer, und das ihr bis ins Alter gebliebene Temperament verwehte in Morphium-Schwaden, die sich in regelmäßiger Beflissenheit wie Platzregen in sie ergossen. Ich hätte mit dem Tod der Großmutter niemals gerechnet, aber er kam mit der Berechtigung eines uralten Fluchs, der sich in einer Familie ausbreitet und sich in Gestalt unzähliger Metastasen im Pankreas und im Darm der Großmutter festhielt, aber das wußte ich nicht; und noch während ich in Kolberg herumstand und mit den Meinigen Eis fraß, glaubte ich, die Großmutter nach unserer Rückkehr aus Polen in die Arme schließen zu können und ihre Genesung erwarten. Auf dem Krankenbett war ihr einst tiefschwarzes Haar weiß geworden, aber ich dachte mir, sie könne es sich nach der Genesung wieder schwarz färben lassen; und ich sagte mir, die Kontur ihres geschundenen Leibs könnte sie mit einem der Sommerkleider kaschieren, an denen sie noch kurz vor der Krankheit herumgenäht hatte. Jetzt, da sie gestorben sein sollte, glaubte ich nicht an die Sätze, die die Mutter mir sagte, als sie aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war. Die Sonne schien, unbarmherzig, nachdem sich das Gewitter gelegt hatte. Auf der Straße brüllten sich die Nachbarn über die Zäune der Vorgärten derbe Scherze ins Ohr. Ich hielt mir die selbigen zu und wollte nicht hören, wie in meinen Gedanken der Fährmann die Großmutter schon ins Boot gehievt hatte und mit den Geräuschen des Ablegens befasst war und wie nebenher den Obolus kassierte. Ja, auch die Großmutter hatte Fährgeld zu zahlen; ich hätte ihr gern zuvor die Münze gestohlen; und ich wäre ihr, wenn mich nicht Wut oder die Tränen über die schleichende Unabdingbarkeit ihres Todes gehindert hätten, an den Nachtort gefolgt, willens, sie noch einmal heraufzuholen, und sei es für den einen Moment, wenn die Gewitter abziehn und das Licht hinter den Dachfirsten der Häuser wieder hervorbricht. Aber da sah ich, während ich mich weinend auf dem Bett wand: der Kahn war längst schon gekentert, der Fährmann schwimmend entflohn, und die Großmutter war bald in den Fluten des Kokytos verschwunden, drei Tage, nachdem wir aus Polen zurückgekehrt waren.

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.