Ich weiß nicht, Schlange, was das war – auf einmal stehe ich in einem gigantischen Buchladen. Die Kerker von Piranesi sind dagegen richtig klein, nur hell ist es, gleißend hell, das Licht flutet aus allen Richtungen übereinander, überall sind lange steile Treppen, die zu den geschachtelten Galerien führen, und die Regale mit tausend mal tausend bunten Bücherrücken wachsen wie Efeu über alle Wände. – Du willst dich in deiner Buchstabenwelt verlieren, sagt Schlange. – Ach was, sage ich, ich fasse kein Buch an, ich sehe keine aufgeschlagenen Folianten, ich geh durch die Dimensionen dieser Räume und denke nichts, lese kein Wort, höre keinen Satz, die Sprache ist nicht da, meine Gedanken sind aufgelöst in optische Bilder, mein Gefühl ist tot. – Kein Gedanke?, sagt Schlange, kein Gefühl? Das gibt es nicht. – Ich bin nicht allein, sage ich, ich steige eine Wendeltreppe hoch und wie ich mich umsehe, sehe ich, wie eine junge Frau ins Regal steigt, eine andere klettert auf einer Leiter zu den Büchern. – Ah, sagt Schlange, Frauen… – Ja, sage ich, lauter junge Frauen, ich kann sie nicht zählen, es werden immer mehr. Sie sitzen auf den Regalen, schweben vor den höchsten Emporen, gleiten über die Geländer hinab und hinauf zu all den bunten Regalen, und alle Bewegungen werden eins mit den Büchern. – Du spinnst, sagt Schlange. –
Ich sage nur, was ich sehe, sage ich, und jetzt lese ich die Titel der Bücher, MAXIMUM, MINIMUM, ULTIMA und CANTA, aber ich verstehe sie nicht, ich lese die billigen Preise, ich will die Bücher, aber ich komme nicht an sie heran, zu hoch ist das Regal, in dem sie stehen. Ich will schweben und schwebe, ich steige auf und turne auf einmal mit den Frauen mit, als wäre ich eine von ihnen. – Jetzt löst du dich auf, sagt Schlange, du löst dich auf in deinen Büchern. – Ja, sage ich, ich bin ein Buch, ich bin frei! – Du hast die Bücher viel lieber als mich, sagt Schlange, und die Frauen, die dich lesen. – Alle Frauen, sage ich, sind nur eine, das bist du. – Du rettest dich in eine ungeheure Lüge, sagt Schlange. – Die schönste Lüge, sage ich, ist die Wahrheit. – Du biegst dir deine Wirklichkeit so lange zurecht, bis sie dir passt, sagt Schlange. – Wie soll ich sonst leben, sage ich, anders ertrage ich nicht die Leichtigkeit des Seins. – Ist sie denn so schwer?, sagt Schlange. – Ich gebe mich leicht, sage ich, ich behalte alle Schwere bei mir, und wo sie sich zeigt, zeigt sie sich nur leicht. – Das ist alles so relativ, sagt Schlange. – Ja, sage ich, und du schaust mir zu, wie ich gegen mich kämpfe, wenn ich so leicht erscheine. – Wie kommst du denn darauf?, sagt Schlange. – Ich stehe in diesem gigantischen Buchladen, sage ich, die Frauen schauen mich nicht an, sie sind nur mit sich selbst beschäftigt und mit den Büchern – da wächst auf einmal aus dem Steinboden der Halle eine Tischtennisplatte und klappt auf wie gefaltetes Papier! Ich stehe hinter der Platte, hinter mir der Regenbogen in den hohen Regalen, mir gegenüber ein Mann, den ich kenne, aber ich erkenne ihn nicht. – Du spielst, sagt Schlange, du spielst gegen dich selbst, und die Frauen schauen dir zu, nicht wahr? – Sie schauen dem Spiel zu, sage ich, der Mann schlägt auf, der Ball geht knapp übers Netz und treibt scharf angeschnitten auf mich zu, ich schlage zurück. Die Frauen sind über die Treppengeländer und Galeriebrüstungen gebeugt und hängen kopfüber von der Kuppel herunter wie Lampen. Schweigende Sirenen, denke ich jetzt. Ich schaue nicht hin. Ich sehe alles. Der Ball kommt wieder, diesmal ziemlich hoch, ich schlage härter zurück als vorher, da zischt von unsichtbarer Hand geschossen der rote Schläger meines Gegners dicht an meinem Kopf vorbei und bleibt in den Büchern hinter mir stecken. Wie eine Klinge, denke ich jetzt. – Du willst die Bewunderung der Frauen, sagt Schlange. – Vielleicht ist es so, wie du sagst, sage ich, aber vielleicht will ich zeigen, dass ich mich zerschmettere, wenn ich schreibe. – Du hast Tischtennis gespielt, sagt Schlange, du bringst dich nicht um, du hängst viel zu sehr an dir. – Sieh es symbolisch, sage ich, wenn ich schreibe, schreibe ich um mein Leben, es geht um nichts Geringeres als darum, und ich will, dass meine Leser um ihr Leben lesen, nicht mehr und nicht weniger.
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Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann, Kulturnotizen 2016
In den Schlangegeschichten wird die Dialektik der Liebenden dekliniert. Ulrich Bergmann schrieb mit dieser Prosafolge eine Kritik der taktischen Vernunft, sie steht in der Tradition der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels und zeigt die Sinnlichkeit der Unvernunft, belehrt jedoch nicht. Das Absurde und Paradoxe unseres Lebens wird in Bildern reflektiert, die uns mit ihren Schlußpointen zum Lachen bringen, das oft im Halse stecken bleibt.
Eine Einführung in die Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.