Und geht die Welt zu Grund – Ich liebe dich und die Partei und den Gewerkschaftsbund
Einer, der nie im Café Sport war, weil er wirklich nirgendwo dazugehörte und kaum mit jemandem sprach, sondern nur trank, war der Kobalek, „der letzte Arbeiterdichter Österreichs“, wie er sich selbst bezeichnete. Er saß an jedem Abend an der Theke im „Bücke-dich“, einem Lokal an der Zweierlinie bei der Stadion- und Josefstädterstraße, das, als das „Sport“ geschlossen worden war und die Gäste ins „Savoy“, ins „Café Alt Wien“ oder anderswohin ausgewichen waren, bald auch zu einem Unterschlupf wurde, aber ohne feste Szene, sondern eben nur ein Lokal war für Einzelgänger, nicht mehr für Gruppen. Das Lokal hatte seinen Namen davon, daß man sich bücken mußte, wenn man es betreten wollte, da es im Souterrain war und nur einen kleinen schmalen Eingang hatte. Also, da saß jedes Mal dann der Kobalek auf einem Hocker an der Theke, vor sich ein Achtelglas mit billigem, schlechtem Rotwein, starrte vor sich hin, schweigend, sagte nie ein Wort, deutete nur auf sein Glas, wenn das leer war und bestellte so ein neues. Mich interessierte dieser „letzte Arbeiterdichter“, also suchte ich seine Nähe, setzte mich auf den Hocker neben ihm in der Hoffnung auf eine Gemeinsamkeit, auf ein Gespräch. Er aber sagte, soweit ich mich erinnern kann: „Loß mi in Ruah, red mi jo ned aun!“ Und dann schwieg er wieder. Also mußte ich mich mit dem Mythos Kobalek-Arbeiterdichter aus Wien abfinden. Man sagte, er sei gebildet, er kenne die Arbeiterdichtung, die Proletarierdichter, die früher einmal in der legendären „AZ-Arbeiterzeitung“ vor dem Krieg, als die Sozis noch auf Bildung wert legten, ihre Gedichte veröffentlichten und diese nicht nur mit Zustimmung und manchmal sogar mit Begeisterung aufgenommen, sondern sogar diskutiert und zeilenweise auswendig gelernt wurden und hergesagt werden konnten. Der Kobalek war einer von ihnen, er zählte sich jedenfalls dazu; „Ned zu dem Schmarrn, den ’s heitzutog gibt“, soll er einmal gesagt haben. Der Kobalek hatte immer blaue Lippen und eine blaue Zunge, vom Rotwein. Er hatte immer das gleiche verschmuddelte Gewand an, das er anscheinend ewig nicht gewaschen hatte, er stank etwas, aber der schweißige Körpergeruch wurde durch den von Kohle überdeckt und gab allem eine herbe Note. Kobalek lebte nämlich in einem Kohlenkeller, den er von seiner Mutter geerbt hatte und den er bedarfsweise betrieb. In den Kohlenkellern, die es damals noch gab, war meistens auch so eine Art Verschlag mit einem Büro drinnen und manchmal stand da auch noch eine alte dreckige Couch, auf der man sich ausruhen oder – wie der Kobalek – die Nacht verbringen konnte. In der Früh sperrte man sein Geschäft dann auf, wenn die ersten Leute kamen, um sich Kohlen und Brennholz zu holen. Das war also praktisch. Und obwohl der Kobalek also eigentlich ein Geschäftsmann war, weil er ja ein Geschäft hatte, war er doch „der einzige lebende österreichische Arbeiterdichter“. Mit ihm und dem grundlegenden verderblichen Wandel der Sozis ist dieses Genre der Literatur ausgestorben. Angeblich hatte und hat der Kobalek einen ganz berühmten Bruder, einen weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannten bildenden Künstler, einen Maler, dessen Werke auf dem Internationalen Kunstmarkt preislich ganz oben rangieren. Jeder Kenner von zeitgenössischer Kunst kennt ihn, da die Werke dieses Künstlers bei großen Ausstellungen gezeigt werden und in allen Museen zu finden sind. Dieser Mann, der Halbbruder vom Arbeiterdichter Kobalek, heißt Franz West.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010, von Peter Paul Wiplinger. Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010