es ist vorbei
wir sind am Ende
der Faden ist gerissen
die Würfel sind gefallen
die Tage sind gezählt
nichts kommt mehr
und nichts findet noch statt
es war alles schon mal da
jede Note wurde schon einmal gespielt
jedes Wort wurde schon einmal gesprochen
jeder Strich wurde schon einmal gezeichnet
gebt endlich auf
es ist vorbei
wir sind am Ende
der Kuchen ist gegessen
der Drops ist gelutscht
die Messe ist gelesen
alle Fragen wurden gestellt
es gibt nur noch Antworten
es gibt nur noch Wahrheiten
alle austauschbar
alle beliebig
alle gleich gültig
nichts kommt mehr
und nichts ereignet sich noch
es ist einfach nichts
nicht einmal die Leere
nicht einmal das Nichts
es ist vorbei
der Zug ist abgefahren
Schicht im Schacht
Affe tot
aus die Maus
Ende im Gelände
es ist schlichtweg aus
nur der Tod ist gewiss
erkennt ihn endlich an
wer nicht krank sein will,
soll die Krankenhäuser abreißen
wer nicht sterben will,
soll das Gleiche mit den Pflegeheimwer nicht tot sein will,
soll die Friedhöfe einebnen
es ist vorbei
unsere Zeit ist abgelaufen
das Spiel ist aus
wir sind am Ende
auch die Demokratie hat versagt
die Reichen sind reicher geworden
die Armen sind ärmer geworden
und auch der Kapitalismus hat versagt
auch er hat den Tod nicht abgeschafft
es ist aus und vorbei
geht nicht länger arbeiten
geht nicht länger wählen
werft all euer Geld weg
und zerreißt eure Verträge
hört auf, irgendwelchen selbsternannten Eliten in den Arsch zu kriechen
hört auf, zu gefallen
hört auf mit dem ewigen Gefällt-mir-Klicken
das Neue war nie neu
das Junge war nie jung
das Andere war nie anders
das Alternative war nie alternativ
also gebt endlich auf
es ist vorbei
dies ist das Ende
nichts geht mehr
und nichts wird noch kommen
alles ist vorüber
packt eure Brüste ein
steckt eure Schwänze weg
und schiebt euch eure Handys und Smartphones in den Arsch
jede Tätowierung ist die Sehnsucht nach Hautkrebs
jedes Piercing ist die Sehnsucht nach einer Schusswunde
wer Fleisch essen will,
soll sich „sein“ Tier selber schlachten
wer Fleisch essen will,
soll „seine“ Haustiere töten
wer Fleisch essen will,
soll zum Kannibalen werden
verzehrt euch selbst
fickt euch selbst
Totsein werdet ihr so oder so
ihr habt lediglich die Freiheit, zu wählen,
wie ihr sterben wollt
jede Tätowierung ist die Sehnsucht,
ein Soldat oder ein Häftling zu sein
doch es ist ja nichts
nichts ereignet sich
nichts geschieht
und nichts passiert
wir müssen passen
alles ist passé
von nichts kommt nicht nichts
von nichts kommt etwas
etwas kommt von nichts
und etwas ist nicht nichts
die sogenannte Mitte hat sich radikalisiert
es gibt keine normalen Menschen mehr
es gibt nur noch Dicke und Dünne
in den allabendlichen Talkshows sitzen fast nur alte hässliche Männer und reden über
als meinten sie Gott Demokratie,
(dabei meinen sie nur sich selbst)
und wenn es ein paar Frauen gibt,
dann müssen sie jung und schön sein
doch wie gesagt:
es ist vorbei
alles ist hin
alles ist hinüber
alle Schlachten wurden geschlagen
alle Kriege sind verloren gegangen
wir brauchen noch mehr Nazi-Dokus
den Führer nonstop auf allen Kanälen
Hitlers Helfer
Hitlers Frauen
Hitlers Hund
und Hitlers Leiche
die Wolfsschanze
Berchtesgaden
der Obersalzberg
es war doch nicht alles schlecht
die Menschen hatten wenigstens Arbeit
wir brauchen noch mehr weinende Veteranen-Greise
wir brauchen noch mehr jammernde Krieger-Witwen
nichts soll dem Tod anheimfallen
nicht einmal die Demenz
verzehrt euch selbst
fickt euch selbst
tötet euch selbst
das heißt:
tötet euch lieber selbst,
bevor ihr andere tötet
tötet euch lieber selbst,
bevor euch andere töten
seid so frei
ihr könnt tun und lassen,
was ihr wollt
wovor habt ihr denn noch Angst?
es gibt kein Privateigentum mehr
alles gehört allen
das heißt:
niemandem gehört nichts
das heißt:
ihr gehört endlich euch selbst
schiebt euch eure Smartphones und Handys in den Arsch
seid die fünf Minuten Fußweg zwischen S-Bahnhof und Mietwohnung jetzt endlich
stellt euch eurer Einsamkeit wieder allein
akzeptiert eure Langeweile,
eure Sterblichkeit,
euren Tod
denn es ist vorbei
wir sind mit unserem Latein am Ende
wir sind mit der deutschen Sprache am Ende
wir sind mit dem Deutschen am Ende
wir sind am Ende
das Spiel ist aus
die Zeit ist um
die Tage sind gezählt
nichts kommt mehr
es war alles schon einmal da
lebt wohl
macht´s gut
wir sehen uns nicht wieder
das war´s
ich gehe jetzt
es ist vorbei
***
Weiter im Text, von Clemens Schittko, Ritter Verlag, 2016
Bei diesen aufzählenden Gedichten von Clemens Schittko geht es immer um die eigentümliche Verbindung von Muster und Musterstörung, Serialität und Improvisation, Strengheit und Phantasie. Sie basieren strukturell auf Wiederholung, ihr Potential liegt in der Entfaltung dessen, was sie variieren. Durch seine Selbstreferentialität vollziehsie eine Volte ins Subversive, dekonstruiert den feierlichen Anrufungsmodus und das Genre selbst.
Eine Rezension des Bandes von Elke Engelhardt finden sie hier. Ein Interview mit Clemens Schittko finden Sie hier.
Weiterführend zur Theorie des Sozialen →
Eine Theorie des Sozialen lautet, es gebe in der Politik keine Lücken. Immer wo sich eine auftue, werde sie sofort von anderen Akteuren besetzt. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat.