Epochenschwelle

Auferstanden aus Ruinen

und der Zukunft zugewandt,

laß uns dir zum Guten dienen,

Deutschland, einig Vaterland

Johannes R. Becher

Die Abkürzung „BRD“ wurde im Kalten Krieg für die Bundesrepublik Deutschland als eine nicht offizielle Abkürzung verwendet, mitunter im wissenschaftlichen und insbesondere politischen Kontext analog zu dem meist in Anführungszeichen gesetzten Kürzel „DDR“ während des Zeitraums von 1949 bis 1990. A. J. Weigoni gelingt in seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet die detaillierte Abbildung seiner Epoche in der Sprache, es ist nebenbei eine Kulturgeschichte der Kälte. Darin ähnelt er Arno Schmidt, der in seiner Prosa der 1950er-Jahre die unmittelbare Gegenwart der Adenauer-Ära brennscharf einfangen hat, das konservative Bedürfnis nach Rückkehr zur Normalität, dem Wunsch nach Änderung, nach Neuanfang.

Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel Reich-Ranicki.

Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht

Es gehört zu den Paradoxien der Gesellschaftskritik, daß sie in spürbarer Retromanie jener vorglobalisierten „BRD“ hinterher trauert, die sich doch selbst mit derselben Betroffenheitsrhetorik soziale Kälte, Umweltverschmutzung und kapitalistischen Wildwuchs vorwarf. Das Monopol auf Nostalgie und Aufarbeitung, pathetisch gesagt auf Historizität hatte nach der Wende die Autoren der DDR inne. Es ist interessant, die Etappen nachzulesen, in denen sich die Historisierung der BRD vollzog.

Erinnern ist immer auch ein Verlangen nach Geschichte, nach Herkunft, nach Heimat.

Für Weigoni geht es um die Verfasstheit der Bundesrepublik nach 1945 bzw. 1989, beide Jahreszahlen bilden eine geistespolitische Klammer mit ihrem Beginn bei der sogenannten Stunde Null (die de facto nie als singulärer Moment, als Neuanfang einer Kultur, existierte) und der Stunde der Abrechnung der Jungen mit den den totalitären Ideologien. Erst durch Hartz IV nach der Jahrtausendwende nahm auch die Alltäglichkeit des alten Westens nostalgische Züge an. Im Gegensatz zur krisenhaften globalen Ökonomie repräsentierte sie einen Kapitalismus, der noch solidarisch funktionierte und den erwirtschafteten Reichtum allen zugute kommen ließ. In der Nacht des 9. November kamen die Deutschen sprungartig in einer neuen Menschengeschichte an, einer neuen Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit überstieg nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihrer Einbildungskraft. Wer Geschichte zum Zwecke politischer Bildung – und das bedeutet konkret: der Schärfung politischer Urteilskraft – betreiben will, muß sich klarmachen, daß konsequente Historisierung eine Vorbedingung dafür ist, die Verführungskraft von Ideologien richtig einzuschätzen.

Die Vergangenheit steht uns noch bevor.

Russisches Sprichwort

Die Historiker attestierten der BRD inzwischen eine „geglückte Demokratie“. zu sein. Die DDR war ein Land, das die BRD gespiegelt hat, als dieser Spiegel Risse bekam, bedeutet dies, daß die Bürger beider Länder ihre eigene Identität überprüfen mußten. Weigoni benutzt weder die Begriffe Einheitsliteratur noch Wendeliteratur, er versucht stattdessen von einer festen Begriffsdefinition Abstand zu nehmen, seine Absicht beim Schreiben ist es, die Literatur mit dem Leben in Verbindung zu bringen, andere Sprachen aus der Wissenschaft, dem Journalismus oder der Kunst mit einzubeziehen. Dies ist eines der interessantesten Feldexperimente in der deutsch–deutschen Gegenwartsprosa. Die atmosphärische Dichte dieses Romans verdankt sich genauen Recherchen und frappierenden historischen Details. Hier wird aus den Bruchstücken einer zerfallenden Welt ein Sprachkunstwerk zusammengesetzt. In der nostalgischen Rückschau auf 1989 haben sich die Illusionen der postbourgeoisen Arrieregarde jener Jahre in ihre Köpfe einzementiert. Der Sozialismus, so geht die oft erzählte Legende, bestand hauptsächlich aus fröhlichem Jugendleben. Hässliche Hosen, aber gewagten Dissidentenpartys. Wenig Freiheit, aber viel Sex. Wo die Liebe in die Krise gerät, gerät die ganze Welt an den Rand des Abgrunds. Und umkehrt.

Hegel bemerkte, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Karl Marx

Zäsuren sind die Scheren der Geschichte; sie schneiden zumiest tief ein. Poesie und Politik das sind die Pole, zwischen denen sich dieser Roman bewegt. Weigoni stellt die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Er beschreibt Westberlin als nahezu mythisches, insulares Freiheitsversprechen und arbeitet in Abgeschlossenes Sammelgebiet einen Katalog von Sinnesdaten ab, erzählt nicht nur, er deutet die Welt und ist dabei mit allen Wassern aktueller Theorie gewaschen ist. Seine Erkundungen drehen sich nicht nur um das Geschehene und das Gegenwärtige, sondern auch um das Mögliche, um jene sonderbaren, vorläufigen, rückständigen, utopischen und anstössigen Gebilde, die sich keineswegs so schnell einordnen lassen – als könnte es darum gehen, durch Fiktionen eine Welt zu schaffen, in die viele Welten passen. Dieser Roman ist ein anregendes Spiel mit fiktiver Erzählung und faktischer Darstellung, er ist eine geschickt konstruierte Ereignisschilderung, in der viele subjektive Perspektiven von Zeitzeugen spannend zusammengeführt werden.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch wo etwas nicht Geschichte wurde und Geschichte nicht gemacht hat, wiederholt sie sich durchaus.

Ernst Bloch

Es ist kein imperialistischer Blick auf die DDR, sondern ein Roman über die Erfahrung, daß der individuelle Wunsch nach Freiheit immer von Verrat begleitet ist, immer Schmerzen verursacht. Weigoni hat den Roman deshalb auch nicht retrospektiv angelegt, sondern gegenwärtig. Als Parabel. Die Vielzahl der kleinen und großen Geschichten ergibt ein interessantes Gesamtbild, läßt Stimmungen entstehen und zeichnet Bilder von Tragik und Komik. Weigonis literarische Kunst basiert auf einer der Videodramaturgie nachempfundenen Technik. Die Hauptfigur Moritz ähnelt in gewisser Weise Melchior Sternfels von Fuchshaim, dem Heldem in Grimmelshausen „Simplicissimus“, er stolpert von einem Unheil ins nächste. Atemlos folgt man den Verwicklungen und aberwitzigen Verwinkelungen, den Verlusten und dann wieder fast zu fantastischen Glücksfällen dieses rastlosen Lebens.

Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.

Zitiert Weigoni eingangs ein Motto vom Godfather des Aphorismus, Karl Kraus. Die Kunst dieses singulären Werks besteht also darin, das Gehörte, Gelesene, Aufgeschnappte oder an entlegenen Stellen Entdeckte so in konkrete Situationen einzubetten, daß wir zu Zeitzeugen werden. In Abgeschlossenes Sammelgebiet ist alles literarische Erfindung, aber eine der glaubwürdigsten, schrecklichsten und wundervollsten. Dieser Romancier weiß genau, wie er verzögert oder beschleunigt und wovon er schweigt. Versteht man Drastik als ästhetischen Rest der Aufklärung, so ist Weigonis drastischer Stil in seinem Roman keinesfalls äusserlich. Weigoni holt die alte BRD nicht als eine Epoche nachholender Modernisierung, sondern als einen Ort der Nachgeschichte in die Erinnerung zurück. Seine Moral ist die Fortführung der Erzählung mit anderen Mitteln; sein Humor ist urteilslose Vollstreckung. Das Erzählen mit dem Weigoni seinen friedlichen Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse beschreibt, sind immer auch Verhältnisse des Denkens.

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch,
daß er sein ganzes werktägiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.

Heiner Müller

Mit knappen Wendungen stößt Weigoni Assoziationsketten an und erzählt fast süffig von Identität und Liebe, Vergeblichkeit und Verwandlung. Die Wahrheiten in diesem Buch sind unendlich viel zahlreicher als die Irrtümer, der Mut ist viel größer, als es die Dummheiten und Fehler sind. Aber die Verbindung von beidem macht es zu einem wahrhaftigen, beeindruckenden Dokument über die Kämpfe in den Jahren der so genannten Wende. Es ist ein  Phänomen, daß der politische Liberalismus und Konservatismus die Freiheit vor allem als ökonomische Freiheit definiert, während der Freiheitsgedanke der Linken sich vor allem auf Geschlechterrollen und Körperpolitik bezieht. Aus der aufgeklärten Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die einstmals den demokratischen Rechtsstaat konstituierte, filterte die neoliberale Ideologie die Gleichheit und Brüderlichkeit aus, sodaß lediglich die Freiheit des globalen Wirtschaftens übrig blieb; ohne hinderlich regulierende Eingriffe eines Staates: eine Freiheit von der Politik. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt. Dieser Roman ist die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen. Prosa wie Abgeschlossenes Sammelgebiet kann man womöglich nur eingeschränkt mit Befriedigung lesen, man sollte ihn geniessen, die Heftigkeiten des Texts ertragen, man muss sich ihren Besonderheiten ausliefern, ihre Bewegungen mitvollziehen, zur Not der inneren Weigerung zum Trotz. Der Leser steigt nach der Lektüre als Profiteur heraus, um es mit einem Klassiker zu sagen: „Ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, braucht man auch nicht einmal lesen.“

 

 

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Sondermarke von 1969, abgestempelt am 9. November 1989

Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Weiterhin von A.J. Weigoni erhältlich:

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Zombies, Erzählungen, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Vignetten, Novelle, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.