Es geht in dem neuen Buch von Peter Paul Wiplinger nicht um Träume, diese oft wirren surrealen Gebilden, die uns im Schlaf heimsuchen, und die wir manchmal deuten können, oft aber nicht. Es geht um Gedanken, die man von der Leine lässt, die man durch keine bewusste Konzentration zu einem Ziel zwingt. Gedanken – und wann denkt man nicht? – reihen sich aneinander, machen Sprünge von Ort zu Ort und in der Zeit, stöbern Erinnerungen glasklar auf, quälend und unabweisbar, aber oft auch schön wie ein mit allen Sinnen genossenes Glück. „immer ist diese erinnerungswirklichkeit zwischen mir und dem vergessen aber auch zwischen mir und dem nicht vergessen können angesiedelt“. Die Assoziationen folgen aufeinander, von einer inneren Energie angetrieben. Die Welt der Kindheit in ihren beiden Atmosphären, Zwang und Strenge einerseits und Geborgenheit andererseits, taucht in vielerlei Facetten auf: Das persönliche Erleben und der Zeitgeist von damals und längst verschwundene Traditionen, die aufzuschreiben verdienstvoll ist. Aber es ist kein Versinken in der Vergangenheit, der Autor sieht sich nicht nur in einem „vergangenheitsspiegel“, die Gegenwart drängt sich ebenso unabweisbar in den Gedankenfluss. „da sitze ich nun mit meinen fünfundsiebzig jahren und sehe die bilder meiner kindheit in mir und fühle plötzlich und immer wieder eine mir sonst unbekannte traurigkeit in mir aufsteigen weil alles so unlebendig geworden ist und so tot ein ausgestorbener ort“. Über diesen Ort der Kindheit mit den Eltern und den Geschwistern hinaus laufen die Gedanken in die Welt, nach Rom, nach Venedig… Aber sie schwelgen nicht nur in der Schönheit dieser und anderer Städte. Wiplinger war immer ein politisch denkender Mensch mit leidenschaftlicher Anteilnahme am Schicksal der Völker. Kein Problem – Arbeitslosigkeit, Flüchtlingselend, Kinderschicksal … – lässt ihn kalt. Alles dies belagert seine Gedanken. Im Krieg geboren, in der Nachkriegszeit aufgewachsen war er vom Anfang an sensibilisiert für Leid und Unrecht. Als Kind litt er an seiner Unangepasstheit, aber genau diese ist es, die ihn die Welt in ihren Problemen so präzise sehen lässt.
Formal ist das Buch in keine Kategorie einzuordnen. Gemäß den unentwegt fließenden Gedanken hat der Text weder Punkt noch Beistrich. Inhaltlich bietet er eine große Fülle an Erlebnissen, Stimmungsbildern von Landschaft und Natur, Betrachtungen und Erkenntnissen, und dennoch „alles ist bruchstück nur der tod ist ein ganzes.“
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Tagtraumnotizen von Peter Paul Wiplinger. Löcker Verlag, Wien 2016
Peter Paul Wiplinger ordnet sich in seinen Tagtraumnotizen und Venezianischen Notizen keiner literarischen Erwartungshaltung und Dramaturgie unter, sondern erzählt in dieser Form der Textierung von seiner realen Erlebniswelt, die bei den Venezianischen Notizen aus der unmittelbar erlebten Alltagswirklichkeit resultiert und in den Tagtraumnotizen aus einer Erinnerungswelt, die kaleidoskopartig aus Erinnerungsbildern von frühester Kindheit bis in das Jetzt reicht. Die Texte leben von einer assoziativen Bilderwelt, wobei sich die Bilder in einem eigenen und eigenwilligen Erzählduktus aneinanderreihen und in ihrer Gesamtheit doch eine Einheit bilden.