dachte ich bisher an china, sah ich zunächst die ferne der dortigen kultur zu unserer. man betrachtet andere kulturen anfangs wohl zwangsläufig als fremder und von außen. menschen sind halt, leider, zuallererst das produkt ihrer verhältnisse. die gefahr besteht daher darin, daß man, wenn man fremdem begegnet, leicht vorurteilen folgt, die man dann kolportiert. bei nietzsche heißt es: »Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei gesehen werden – sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt; die dritten erleben etwas infolge des Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort; endlich gibt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es gelebt und eingelebt worden ist, endlich auch wirklich aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind.«
2014 hielt ulrich bergmann, chinesisch bao wuli, angeregt und beraten vom sinologen, schriftsteller und übersetzer wolfgang kubin, etwa durch dessen »Geschichte der chinesischen Literatur«, seminare unterm titel »Kafka und die Moderne« vor germanistikstudenten der »Ozean-Universität Qingdao« an der ostküste chinas, wo er unter anderem deutschsprachige autoren wie goethe, büchner, rilke, kafka, benn, brecht, ernst jandl oder heiner müller vorstellte und besprach. laut seiner eigenen auskunft bewegte kafka, neben rilke, die studenten besonders. ezra pound, der james joyce der lyrik, bertolt brecht, günter eich und klabund haben sich ausgiebig mit chinesischer literatur beschäftigt und davon anregen lassen.
ulrich bergmanns übersetzungen, die, respektvoll behutsam übertragen, sprachlich elegant und leicht wirken, zeigen viel hineindenken und einfühlung ins chinesische wahrnehmen. er selbst schrieb: »Dass Übersetzen immer zugleich Übertragen, also neuschaffendes Nachschaffen ist, wird jedem evident beim Übersetzen.«, »Übersetzen ist ein Grattanz, den man ins dialektische Gleichgewicht bringen muss, um nicht abzustürzen in die Wüste der Akribie oder in die Schlucht blühender Phantasie.« und »Jeder Übersetzer will seinem Gedicht auch wiederbegegnen in der Ewigkeit. Seine Übersetzung soll die Moden seiner Zeit überdauern, das ist sein inniger Wunsch.« das gelang dem übersetzer bergmann. genau genommen gleicht jeder lyriker einem übersetzer, der sich bild für bild und schicht um schicht dem original nähert, das beim dichter das eigene ist. übersetzen bedeutet ja, an ein gegenüber liegendes oder jenseitiges ufer zu gelangen. auf der schwelle und im abgrund jener zwischenreiche, die entrücken und entgrenzen, entsteht poesie, eben weil sie unentstehbar scheint.
»Übersetzen ist Deuten. In diesem Sinne ist Malen ebenfalls Übertragung und Deutung. Wir begegnen also in diesem Buch zwei Übersetzern, der eine bemüht das Wort, die andere den Pinsel.« vermerkte wolfgang kubin in seinem geleitwort »Furor Sinensis«. schon der titel der buchausgabe, »Übersetzt von Ulrich Bergmann / Gemalt von Doris Distelmaier-Haas / Übersetzungen aus dem Deutschen von Dehui Braun / Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin«, »Meine Hand malt Worte«, man beachte: worte, nicht wörter, verbindet das bildnerische mit dem literarischen. die malerischen arbeiten der künstlerin, lyrikerin, erzählerin und übersetzerin doris distelmaier-haas transformieren die chinesische schrift ins phantastisch bildhafte, wobei die bilder, die teils auch in musiknoten übergehn, oft etwas schwebendes bekommen.
bei wolfgang kubin heißts: »China ist das Reich der Poesie. Bereits um 1000 v. Ch. wartet es mit gereimten Gedichten auf! Wohlgemerkt, der Endreim kommt im Abendland erst mit dem späten Mittelalter auf. Als klassische Periode für die Dichtkunst gilt heute die Tang-Zeit.« die meisten der gedichte stammen aus dieser epoche, so von li bai (701 bis 762), der zur legendenhaften figur wurde, meng haoran (689 oder 691 bis 740) sowie du fu (712 bis 770), die gemeinsam mit li bai durch china wanderten. während der tang-dynastie (618 bis 907) gab es positive entwicklungen von landwirtschaft, handwerk, handel und künsten, zudem breitete sich der buddhismus in china aus, ehe das chinesische reich zeitweilig zerbrach, unter anderem wohl aufgrund ungelöster konflikte zwischen feudalmacht und bauern. li bai, du fu und andere dichter der tang-dynastie kritisierten früh gesellschaftliche mißstände. aus dem 20. jahrhundert kommen gedichte von lu xun (1881 bis 1936), mao zedong (1893 bis 1976) und dem 1955 geborenen dichter yang lian hinzu, der seit längerem in europa lebt.
beim lesen der nachdichtungen dachte ich an gedanken, die ich einmal zu südkoreanischen filmen, etwa von yong-kyum boe, kwon-teak im oder kim-ki duk, notierte: »die südkoreanische filmkunst mit ihren poetischen, meditativen, parabelhaften, kammerspielartigen, musikalisch strukturierten und konflikte gleitend aufbauenden filmen, in denen man eine erstaunliche stilsicherheit der künstlerischen mittel findet, verweist darauf, daß dort sehr alte traditionen, so des symbolischen wahrnehmens, lebendig blieben. manches mag dem europäischen blick zunächst statisch und bilderbogenhaft vorkommen. aber dann erkennt man, gerade weil die symbole lange und intensiv hinterfragt wurden, können sie wieder, oder noch, ernst genommen werden. das reale, etwa der natur, wird derart unmittelbar und unaufdringlich symbol und das symbolische parabel, während die europäer häufig erst übersteigerungen brauchen, wenn sie symbolisch wirken wollen. der surrealismus war ein typisch westlicher versuch, den vulgärmaterialismus zu überwinden.« chinesen würden hier sicher auf die unterschiede zwischen chinesischer und koreanischer kultur hinweisen.
die unseren lebensformen angeglichenen verhaltensweisen des modernen chinesischen alltagslebens, auf die ulrich bergmann in weiteren texten über seinen china-aufenthalt hinwies, dürfen nicht dazu verleiten, die kulturellen differenzen, die für identitäten wichtig bleiben, nicht mehr wahrzunehmen. möglicherweise empfinden chinesen die literatur der klassischen moderne, die zweifelhaft gewordene harmonien überwinden wollte, bis heute überwiegend als partikularistisch, das heißt zu aufgesprengt, fragmentiert, enthemmt, dissonant, paradox, absurd, ambivalent und aufwühlend.
die klassische chinesische poesie betont das universelle und ganzheitliche. der mensch ist hier noch ganz teil der natur und findet sein gleichgewicht darin. c.g. jung schrieb über das »I Ging / Das Buch der Wandlungen«, eines der zentralen chinesischen bücher überhaupt: »Es ist wie ein Teil der Natur, wartend, bis man es entdeckt. // Es bietet weder Fakten an noch Macht, aber für die, die auf Selbsterkenntnis aus sind, auf weises Verhalten – wenn es das gibt – für die scheint es das richtige Buch zu sein.«
das ganzheitliche denken hat in china eine lange tradition. im alten china war es etwa brauch, die toten der familie im fundament des hauses einzubetten. eine etage höher wurde das saatgut gespeichert. und im raum darüber, immer in der gleichen ecke, stand das ehebett. vorfahren, aussaat und zeugung waren so räumlich vertikal miteinander verbunden und konstituierten auf der zeitlichen ebene kontinuität. freilich kannten auch andere kulturen ähnliche bräuche. unter der annahme, alle erscheinungen der wirklichkeit seien symbole für menschen, wird selbst das profanste symbolisch abbildbar. viele der chinesischen gedichte gehen von elementaren lebenssituationen und alltäglichen wahrnehmungen aus, die sie dann universell, vielfach auch parabelhaft, aufheben. lebenslagen eröffnen so gedankenräume. dem entsprechen mitunter mischungen von alltagssprache und hochsprache.
bemerkenswert ist die lebensfreude, die aus den weit über 1000 jahren alten gedichten spricht, in denen oft und viel alkohol getrunken wird. li bai schrieb: »Die Weisen und Heiligen aus alter Zeit sind längst vergessen, / doch bleiben berühmt die Namen der Säufer.« noch häufiger findet man melancholische passagen, bis hin zu gedanken an die vergänglichkeit, also vanitas-gedanken, etwa im gedicht »Reisenachtgedanken« von du fu: »Was nützt mir mein Gedicht, der Ruhm als Dichter? / Ich wurde alt und krank und gab mein Amt auf. / Nun werde ich vom Sturm geschüttelt ganz wie / eine Möwe zwischen Sand und Himmel.« ulrich bergmann konstatiert im »Nachwort« eine »erstaunliche Nähe zur europäischen Literatur des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit.«
das »Nachwort« erklärt: Der Schwerpunkt liegt bei den frühen Gedichten auf der subjektiv erfahrenen Welt (Li Bai), bei den Gedichten der Moderne wird stärker der unaufhebbare existentialistische Konflikt des Einzelnen in einer gebrochenen Welt gesehen (Yang Lian) oder die Rettung ins Kollektive (Mao Zedong). Die Dichter der Moderne träumen wie die alten Meister in Bildern der Sorge und Angst und der Hoffnung. Weiterhin bleiben Naturmetaphern wichtig. Melancholie und Resignation der Tang-Zeit reicht bis in unsere Gegenwart (Yang Lian), nur bewusster.«, und: »Es ist der romantische Ton der Sehnsucht, der uns heute noch aus manchen der alten Gedichte anweht, teils sanft-ironisch gebrochen.« für mich enthalten diese texte auch vieles von der lebensweisheit antiker dichter und philosophen, etwa eines vergil, ovid, cicero oder seneca, freilich anders geprägt. man darf sich fragen, was nähere berührungen, über den seidenhandel hinaus, der alten chinesischen mit den antiken griechischen und römischen kulturen hervorgebracht hätten, und zwar in beiden richtungen.
der klassischen chinesischen lyrik folgen in »Meine Hand malt Worte« einige gedichte von mao, der ebenfalls in dieser tradition stand, etwa »Changsha – 1925«. erstaunlich ist darin das schlußbild: »Wisst ihr noch: / Wir schlugen mitten in der Strömung auf das Wasser, / und die Wellen bremsten den Flug unsres Boots.«, das eher transformatorische veränderungen der gesellschaft nahelegt. und tatsächlich kann die entwicklung eines riesenreiches wie china sinnvollerweise eigentlich nur evolutionär vernünftig gelingen. was der konfuzianismus anbietet und fordert, die kunst der verwandlung und der transformation sowie den vermittelnden ausgleich zwischen antipoden, könnte auch dem künftigen china gut tun. vorm zerbrechen hat das chinesische bewußtsein wohl besondere angst.
im gedicht »Die Höhe des Traums« von yang lian, dem ulrich bergmann in bonn persönlich begegnete, heißt es: »der Mensch in deinem Traum, / von einer Rippe in den Himmel hochgeschleudert, / ist noch da und schweift und schwirrt herum wie eine Melodie.« und »Ein Traum wirkt hin und wieder länger als ein Leben. / Manchmal trotzt ein Felsen dir, der macht in einer andren Zeit dich alt / und schwach.« auch hier klingen motive der endlichkeit und des überdauerns an.
peter sloterdijk schrieb in seinem buch »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit / Über das anti-genealogische Experiment der Moderne: »Die erfolgreichsten Traditionskulturen sind jene, die sich darauf verstanden, das Sensibelste mit dem Stabilsten in eins zu setzen: Sie bauen darauf, die Seelenarbeit der Söhne werde die Stärken der Väter integrieren und ihre Schwächen ausgleichen.« genau das scheint die situation und hoffnung, oder illusion, der aktuellen chinesischen regierung zu sein.
in seinem text »China auf der Suche nach der optima res publica?«, der zunächst von europäischen sichtweisen ausgeht, fragt ulrich bergmann: »Könnte es sein, dass andere Länder und Kulturen andere Gesellschaftssysteme entwickeln als wir? Ist die westliche Demokratie wirklich der geeignete Maßstab für die ganze Welt?«, und ergänzt: »Man kann dem europäischen Moralismus, der Menschenrechte in aller Welt einklagt, nur skeptisch gegenüberstehen. Wer den Gedanken der Selbstbestimmung eines Landes ernst meint, der muss hinnehmen, dass andere Länder und Kulturen andere Gesellschaftssysteme entwickeln.« an anderer stelle schrieb er: »Ich vermute, China wird auch wegen seiner vorherrschenden Mentalität wieder ein Riese. Lebensfröhlichkeit, Geduld, Gelassenheit, Flexibilität, Spontaneität, synthetischer Sinn sind Stärken der Menschen dort.«
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Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie und aus dem 20. Jahrhundert
26 Gedichte chinesisch/deutsch übersetzt von Ulrich Bergmann
26 Bilder von Doris Distelmaier-Haas
Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin
152 Seiten, Deutsch und Chinesisch, kleine Ölbilder in Weiß auf schwarzer Grundierung, Lesebändchen, geb. – Bacopa-Verlag, 2015
Weiterführend →
Zum näheren Verständnis zu den Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie baten wir den Übersetzer Ulrich Bergmann um eine Vertiefung.