Aufstieg und Ausblick

 

Eine schöne Fügung, so stehts in den Annalen, erzwingt einen besonderen Abschluß; und so soll es auch hier sein, aber der Geist spielt nicht mit.

Ein Jahr bin ich nun, grübelnd und schreibend, schon hier, schön liegt der Bergfried vor mir, über der Landschaft, dahinter der Weg am Brunnen vorbei, das Würzgärtlein und das atemnehmende Panorama, fünfundzwanzig Quadratkilometer bis zum Thüringer Wald. Es gibt nicht viele Dinge, die größer und schöner sind als der Anblick eines leuchtenden Landstrichs, Comfortably Numb vielleicht, 1994 im Earls Court, David Gilmour beim zweiten Solo, Rick Wright in Keyboard-Gewittern: is there anybody in there; Sam Browns schwarzes Kleid – die Bewegung ihres stimmbegnadeten Munds.

Auf der zugigen Höhe des letzten Umgangs der Burg ist man, denkt mir, momentlang, verwandt mit dem Wind, man steht, und um einen breitet sich das Zechsteinmeer aus: jagende Plesiosaurier in feiner Bewegung, der Pterodactylus in Gestalt eines Falken im Anflug, und das Licht über der rauschenden Landschaft, blau, eine frappierende light-show. ‚Glücklich ist nur der, der sieht‘, heißt es, und was ich bedaure, ist, daß es mir übers Jahr nicht gelungen ist, den Bergfried zu besteigen … jeder war oben, sagte die Museumsfrau heute zu mir; alle, nur ich nicht … die zweite Stiege habe ich nie überwunden.

Allein: in meinen Gedichten war ich längst dort; und in der Wirklichkeit hat mich der sich stets verändernde Blick aus den Südfenstern des Hauptflügels gelockt und begeistert; der Grafenblick über die Stadt; einzig die Unterbewußtseinsschwellenströmungskaskade gebietet  mir Einhalt mit Schweißfluß und wackelndem Knie. Wie eine Allergie kommt die Angst, daß sich das Holz unter mir eben verflüssigt; von der Großmutter hab ichs und steige, wieder und wieder, hinab; – aber ich verspreche auch, wiederzukommen und erneut den Aufstieg zu versuchen: von oben zöge mich, träumt mir, die Sehnsucht nach Weite und Licht, das den geglückten Augenblick ausmacht … und von unten schöbe die Raniser Bürgerversammlung und feuerte mich an: alle wären gekommen, um mir den Aufstieg zu bringen. Und der neue Stadtschreiber, ein Trommler, schlüge ein paar ekstatische Takte, – dann, bin ich mir sicher, würd’ ichs auch schaffen, ach, und könnte bis zur Maxhütte sehn; ach, und vielleicht wäre Nebel, und die Falken griffen mich an; ach, und ich müßte, oben endlich, dort oben bleiben, in grausamer, fliegender Panik vor dem Abstieg, wo ich, denkt mir, die zweite Stiege nach unten nie überwände; ach, und von Saalfeld aus oder Erfurt müßte man mich mit dem Hubschrauber holen und über der Senke abseilen … die Tauben verjagt, die sanierte Turmhaube zerstört; ach, verhungern müßte ich dort, ängstlich und elend, und die Touristen kämen und gingen, unbeschwert, heiter, ich würde es niemals verstehn. ‚Glücklich ist nur der, der sieht‘, so heißt es, deshalb komme ich wieder, den Aufstieg versuchen, den Triumph-Moment anzuvisieren, immer gewiß, es bis zur zweiten Stiege zu schaffen, und im Geist schon oben zu sein, zu sagen: „Welch Herrlichkeit!“, comfortably numb.

Vorerst aber bin ich noch unten und füttre die Stare und Tauben, die sich nach dem Mahl in die Haube des Bergfrieds verziehn und nicht ahnen, daß ich längst auf dem Weg bin, wild und entschlossen; vor Entschlossenheit platzend, im Gleißen der schwindenden Sonne, wie von Sinnen, vom Rosen-Bier herrlich betäubt.

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Das Licht hinter den Hügeln des Walds eine weitere Landschaft.

 

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

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