Eine autopoetische Betrachtung
Mit der Literatur habe ich es mir nicht leicht gemacht, obwohl der Urgrund meiner Poetik denkbar einfach ist: Ich schreibe, um mich meiner Anwesenheit zu versichern. Das ist das Leichteste, meint man – in meiner Situation ist es unheimlich schwer zugleich. Aus der unglaublichen Verlorenheit des Nicht-Wissens erst war ein Anfang zu filtern, sprachlos und hilflos fühlte ich mich zunächst, über die Jahre dem Wenigen ausgeliefert, das ich Ahnung nennen will und in dem ich meine Rettung glaubte: die Ahnung von der Literatur.
Ich mußte mich lange befleißigen, gegen die Trauer anzuschreiben, und gegen das Nichts, das die Verluste der Kindheit in mir hinterließen. Ich habe viel darüber nachgedacht, was mich sonst retten könnte … aber das Hinterlassen von Buchstaben auf dem Papier erschien mir als das Triftigste, der wichtigste Grund, sich eines wie auch immer gearteten Anwesendseins bewußt zu werden. Ich habe das in der Jugend dringend gebraucht, um einige Schatten zu überwinden: die Schatten, ohne die ich heute kein Schriftsteller wäre.
Wer schreibt, geht nicht verloren – das scheint mir noch heute eine Hoffnung wert, auch wenn ich weiß, daß in der jetzigen Welt der Sprachkünstler, ja, ich will sagen, der Schamane des Worts, keine Aufgabe mehr zu haben scheint. Es begann mit der Sichtung des Unglücks, das mich, wie ich fühlte, umgab; und erstreckte sich bald über einen wüsten Haufen von Texten, von denen ich nicht wußte, ob sie was taugen oder je einem literarischen Anspruch genügen könnten. Ich träumte schon von Büchern, aber ich konnte sie noch nicht schreiben.
Eine Zeitlang hatte ich es mit Zoologie versucht: ich wollte ein berühmter Tierschriftsteller, ein Tierbeschreiber werden … bis ich bemerkte, daß es die Menschen waren, um die es mir ging, um ihre Nähe und Ferne und ihre – wirklichen oder erträumten – Bezüge zu mir. So ist mein allererstes Gedicht denn auch eines aus Liebeskummer, ich widmete es dem Mädchen, das verliebt war in mich und das sich nicht wagte, mich anzusprechen, genauso wenig wie ich sie. Außer ein paar Küssen war nichts zwischen uns; was blieb, war ein Gedicht.
Kein sehr gutes Gedicht, wie ich heute natürlich weiß, aber ein Anfang. Es klang, so glaube ich, wie eine sehr schlechte Übersetzung eines Songs von Dépêche Mode, jener britischen Band, die ich damals zu lieben begann und noch heute verehre. Immerhin, ich hatte von nun an eine Möglichkeit, meinen Schmerz und meine jugendliche Verwirrung … irgendwie … in Worte zu bringen. Und: ich hatte zeitig mein Thema gefunden – die Liebe und die Probleme, die sie bereitet als Krankheit und Dummheit und aufregendste Sache der Welt.
Ich hatte also fortan die Literatur (oder was ich darunter verstand) zur Artikulierung meines Haders mit der Welt. Eine regelrechte Explosion in meinem Schreiben bewirkte der Freitod meines Vaters 1992: die schwierige Beziehung zu ihm und die Verwirrung um seinen Verlust, ohne daß wir jemals eine Aussprache hätten führen können, wurde fortan ein zentrales Thema meiner Arbeit. Heute habe ich das allerdings überwunden und widme mich vielen Dingen, der komplizierte Beginn hat sich in die Breite verlegt, worüber ich froh bin.
Natürlich haben mir ein paar Dichter auf meinem Weg wichtige Impulse gegeben: Hölderlin, vor dem ich mich erst fürchtete; auch Goethe, den ich umständlich entdecken mußte; der Expressionismus, Octavio Paz, Celan, Wolfgang Hilbig. Ich bin mir nicht sicher, ob einem so eine gewaltige Vorbilderreihe wirklich nützt; aber ich sah in diesen Vorgängern ein Symptom auch meiner Versuche zweifellos bestätigt – Schreib-Obsession und absolute Hingabe an die Stoffe … und die Beglückung im Schreibakt, der für mich eine Art Obdach ist.
Das ist nun doch schon zehn oder fünfzehn Jahre her, inzwischen war ich glücklich und unglücklich verliebt, habe zwei Kinder gezeugt und das Unterfangen, ein anständiger Vater zu sein, von Anfang an beherzt in Angriff genommen … habe studiert und war in dem reichen Land, aus dem ich komme und wo der Schreiber nicht immer viel gilt, oft in finanzieller Verzweiflung wegen meines langsamen und unergiebigen Berufs, aber auch einige Male im Fokus von Ehrungen und Stadtschreiberämtern und beschwere mich nicht.
Was bleibt, ist die Liebe zur Sprache und das Bekenntnis zur Kunst. Es ist oft das Dunkle und Unausgesprochene, was mich bewegt, weshalb man mir manchmal eine späte Romantiker-Anwartschaft zuschreibt, was nicht korrekt ist, aber auch kein großer Faux-pas. Es liegt in den unaufgearbeiteten Dingen begründet, die mich doch noch beschäftigen. Mittlerweile sehe ich aber auch die tatsächlichen Dinge um mich und kann im Angesicht der Realitäten durchaus das Gefühl der Kreativität ausleben; und das, will ich meinen, läßt mich hoffen.
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Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.