Ich erinnere mich: Die großen, dunklen Augen mit dem manchmal wie verloren wirkenden Blick in eine weite Ferne; das schneeweiße, stets korrekt fassonierte und frisierte Haar, füllig, in langen, leichten Wellen zurückgekämmt. Immer in Anzug und Krawatte und frischem Hemd; blank geputzte Schuhe, sorgfältig gepflegt; leicht vorgebeugte Haltung; fast immer eine Zigarette in der Hand.
So saß der alte Herr meist am Nachmittag oder dann wieder spät am Abend oder in der Nacht im Café Hawelka, in der Dorotheergasse in Wien. Immer oder fast immer saß er an seinem Lieblingsplatz; in Wien sagt man „Stammplatz“ dazu. Das war der Platz am runden Tisch vor dem Pfeiler, gleich beim Eingang, neben dem Zeitungstisch. Er saß immer mit dem Rücken zur Wand, so als suchte er diesen Schutz, als benötigte er ihn.
Wenn ich ins Café ging, und der alte Herr da war, trafen sich meist sogleich unsere Blicke. Wir kannten einander schon, auch wenn wir noch nie ein Wort miteinander gesprochen hatten. Wir kannten uns „vom Sehen her“, als Gäste, als Stammgäste des gleichen altehrwürdigen, schon zur damaligen Zeit sehr bekannten und später berühmten „Künstlercafés“, in dem wirkliche und selbsternannte Künstler aus- und eingingen, stundenlang vor einem „Kleinen Braunen“ saßen, sich in hitzige Debatten einließen oder sich einfach hinter einer der vielen Zeitungen, die es gab, verschanzten.
Ich war ein Einzelgänger, genauso wie der alte Herr, wie mir schien; denn nie sah ich ihn in Begleitung. Der alte Herr war immer allein, genauso wie ich. Nur ich war jung, und er war alt. Ich war nach Wien zugezogen, zum Studium; vielleicht war er dies auch einmal, in jungen Jahren, dachte ich damals. Er erregte meine Aufmerksamkeit, ich vielleicht auch seine. Einzelgänger beobachten gerne, intensiv und gekonnt; und am meisten beobachten sie einander. Sie sind ja einander ähnlich, fühlen sich irgendwie verwandt; denn sie haben etwas gemeinsam: ihr Alleinsein; das es entweder gezwungenermaßen für sie gibt oder aufgrund eigener, freier Entscheidung.
Und so beobachtete auch ich den alten Herrn, möglichst unauffällig, wenn er seine Zeitung las oder in die Ferne blickte. Der alte Herr wußte, daß ich ihn von Zeit zu Zeit beobachtete; er wußte, daß ich mich für ihn interessierte. Er mußte es bemerken, denn ich lege mir bei meinen Beobachtungen keine allzugroße Zurückhaltung auf. Beobachten ist meine Passion. Manchmal schaute auch der alte Herr zu mir herüber, wenn ich an einem der anderen Tische in seiner Blickrichtung saß. Trafen sich unsere Blicke, so nickten wir einander – fast möchte ich sagen: mit den Augen – kurz zu, wobei die Miene des alten Herrn sich etwas aufhellte, ja dann meist sogar einen Anflug von Freundlichkeit, später sogar von einem gewissen Wohlwollen zeigte, wie mir schien. Es war, als ob wir durch ein geheimes gemeinsames Einverständnis verbunden wären, von Treffen zu Treffen immer mehr.
Wenn der alte Herr nicht im Café war, vermißte ich ihn. Er fehlte mir. Etwas fehlte mir dann an meinem Kaffeehausbesuch, war nicht vollständig an ihm. Manchmal dachte ich dann auch: der alte Herr wird doch nicht krank sein; nein, sagte ich mir, letztens sah er doch ganz gesund und frisch, wenn auch etwas ermüdet aus. Nein, krank ist er nicht. Vielleicht ist er nur verreist; oder er geht im Stadtpark spazieren; oder er ist in einem Museum, bei irgend einer Ausstellung. Ich ordnete nämlich den alten Herrn dem Künstlerischen zu, jedenfalls was sein Interesse, nicht unbedingt seinen tatsächlichen Beruf betraf. Wissenschaftler, Journalist, Sachbuchautor oder Antiquitätenhändler hätte er sein können. Was er wirklich war, wußte ich ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und da ich von dem alten Herrn nichts Konkretes wußte, erfand ich ein Gedankenspiel: Ich machte mir Vorstellungen vom Leben, vom bisherigen Lebensverlauf, ja auch von einem möglichen Lebensschicksal dieses Menschen.
Ich fragte mich, welches Leben der alte Herr gehabt haben mochte. Ob er verheiratet war und Kinder hatte. Ob er in fremden Städten gelebt hatte; und wenn ja, in welchen. Ob er jemals in Amerika oder in Rußland gewesen war. Ob er in jungen Jahren Sport betrieben hatte, und wenn ja, welchen. Eislaufen, dachte ich, würde gut zu ihm passen. Eislaufen mit einer Dame in einem langen schwarzen Mantel. Ich überlegte, welche Städte, welche Autos, welche Möbel, welche Spaziergänge und welche Menschen oder welch ein Hund zu „meinem“ alten Herrn passen mochten; ich sagte „ja, dies vielleicht“ oder „nein, das sicher nicht“. Immer mehr und eingehender ordnete ich dem alten Herrn, wenn er nicht im Café war, einen imaginären Lebensraum zu. Dabei wußte ich überhaupt nichts von diesem Menschen; jedenfalls nicht mehr, als meine Augen sahen, wenn wir uns im Café trafen. Eine dunkle Stimme hatte er, ja, das wußte ich; denn er hatte schon einmal, da ich im Gang direkt an ihm vorbeigegangen war, meinen Gruß erwidert und mit einer vom jahrzehntelangen Zigarettenrauchen verdunkelten und vom Alter schon etwas brüchig gewordenen Stimme „Guten Tag“ zu mir gesagt.
Einmal, als ich das Café betrat, es war schon spät am Abend, waren alle Plätze im Café besetzt; auch am Tisch des alten Herrn saßen zwei oder drei mir unbekannte Personen, doch ein Stuhl war noch frei. Als hätte der alte Herr meine Gedanken erraten, als er meinen suchenden Blick wahrnahm, zeigte er mit einer freundlichen, einladenden Geste auf den noch freien Stuhl ihm gegenüber. Ich nahm das Angebot dankbar an, wenngleich irgendwie verlegen, so als hätte ich ohne es zu wollen, eine zwischen uns zwar nicht vereinbarte, aber doch bestehende Distanz überschritten und als sei ich mit diesem Überschreiten einer unsichtbaren Grenze in seinen privaten Bereich eingetreten. Jedenfalls waren wir einander um einen Schritt nähergekommen. Mit einer gewissen Scheu, aber auch mit Erwartung registrierte ich dies in dem Augenblick, als ich mich niedersetzte.
„Wir kennen uns schon lange“, sagte der alte Herr und fügte hinzu: „vom Sehen aus“. „Ja“, sagte ich, „wir haben uns schon einige Male gesehen und mit unseren Blicken Kontakt zueinander aufgenommen.“ „Ich weiß“, sagte der alte Herr, „Sie haben mich beobachtet; und ich wiederum habe Ihnen mit meinen Blicken gezeigt, daß ich das registriert habe. Und jetzt, da wir gemeinsam an diesem Tisch sitzen, können wir uns auch miteinander bekannt machen, wie sich das geziemt. Adolf Frankl heiße ich“, sagte der alte Herr; „meine Freunde nennen mich Dolfi. Adolf wäre nicht passend für mich, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Während er dies sagte, nickte er mir freundlich zu, doch seine rechte Hand blieb weiterhin auf dem roten Polsterbezug der Sitzbank liegen. Und der silberne Siegelring an seiner Hand glänzte hell im Lampenlicht. Ich nannte meinen Namen und fügte erklärend hinzu: „Ich bin Student, hier an der Universität. Ich arbeite auf einer Tankstelle, um mir mein Studium zu verdienen; und komme gerade von der Arbeit.“ Der alte Herr nickte. Meine Aussage schien seine Billigung zu erfahren. „Ja, es ist gut“, sagte er, „wenn man in jungen Jahren strebsam ist.“ Mehr sagte er nicht, sondern er schaute an mir vorbei, in die Ferne, so als schien er irgend etwas zu erwarten, seit langem, das aber nicht kam. Da war wieder dieser Blick, den ich schon kannte, den ich aber nicht einordnen konnte in eine mir vertraute Verhaltensweise. „Sie entschuldigen“, sagte ich und griff nach einer Zeitung am Nebentisch. „Selbstverständlich!“, antwortete der alte Herr und machte dabei eine höfliche Geste. Ich blätterte in der Zeitung herum ohne wirklich zu lesen. Der alte Herr hatte ein Notizbuch aus seiner Rocktasche genommen und zeichnete etwas darin und schien wiederum weit von der Welt entfernt zu sein, die ihn umgab.
Seit diesem persönlichen Kennenlernen, das eigentlich nur ein gegenseitiges Einandervorstellen ohne einen intensiveren Gesprächskontakt gewesen war, hatten wir doch etwas gemeinsam, nämlich daß wir einmal zusammen an einem Tisch gesessen waren und einander unsere Namen mit einer kleinen Beifügung genannt hatten. Das schien uns um einen Grad mehr als vorher zu verbinden. Wenn wir uns in der Folge trafen, so grüßte jeder von uns beiden den anderen bei seinem Namen. Ich sagte also: „Guten Tag, Herr Frankl!“ Und Herr Frankl erwiderte mit einer leichten Verbeugung oder einem Zunicken des Kopfes: „Guten Tag!“ – und nannte dabei seinerseits meinen Namen. Das gab bei Gott nicht das Gefühl gemeinsamer Vertrautheit, aber es entstand auf diese Weise eine Art Ritual, das zu einem Bestandteil unserer Begegnungen wurde. Etwas war hinzugekommen zu unserem Leben, was es vordem nicht gegeben hatte, jedenfalls nicht zwischen uns beiden. Eine Art von Verbindung war jedenfalls da, war geschaffen worden oder entstanden; das war nicht zu leugnen.
Eines Tages bemerkte ich bei meinem Spaziergang, den ich immer nachmittags um die gleiche Zeit in der Innenstadt, immer in denselben Straßen und Gassen und auf denselben Plätzen, zu absolvieren pflegte, in der Nähe des Stephansdomes eine größere Menschenansammlung, die sich eben erst gruppiert zu haben schien. Auch zwei Autos standen auf dem Platz neben der Menschenmenge. Die Tür eines der beiden Autos, eines weißen VW-Kabrioletts, stand weit offen. Ungewöhnlich erschien das, da der Platz außer in der Ladezeit am frühen Vormittag für jeden Verkehr gesperrt war. Neugierig geworden darauf, was denn hier los sei, trat ich näher und versuchte, über die Köpfe und zwischen den Köpfen der vor mir Stehenden auf das Innere des von den Umstehenden gebildeten Menschenkreises zu blicken und etwas von dem Geschehen, das die Menschenmenge angezogen und bewogen hatte stehenzubleiben, zu erspähen.
Nach einigen vergeblichen Versuchen, etwas trotz der vor mir befindlichen Menschenmauer wahrzunehmen und erst nachdem ich mich zwischen einigen Personen etwas ungehörig durchgezwängt hatte, konnte ich in das Innere des Kreises blicken. Da standen drei oder vier großgewachsene Burschen, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, fuchtelten mit ihren Armen herum und redeten aufgeregt und laut auf die Menge ein. Eine Art Uniform hatten sie an; eine, die ich von Abbildungen her kannte und aus meiner frühen Kindheit noch dunkel in Erinnerung hatte: braune Hemden, schwarze Hosen, schwarze Stiefel, schwarze Ledertasche mit Riemen von der Schulter herab quer über die Brust, schwarzer Gürtel mit einer Koppelschnalle und eine rote Armbinde mit irgendwelchen schwarzen Zeichen darauf. Einer hatte sogar an seinem Gürtel einen Dolch umgeschnallt. Die Haare der Burschen waren gescheitelt, von rechts nach links, weit über den Kopf hinauf kurzgeschoren, mit Wasser oder Brillantine-Haaröl geglättet. Sie standen aufrecht, breitbeinig. Einer hatte eine kurze, fein geflochtene, lederne Gerte in der Hand, mit der er immer wieder auf seine schwarz behandschuhte linke Handfläche schlug. Das machte ein unangenehmes, pfeifendes Geräusch, ein peitschendes Klatschen, das mich sogleich an meine Kindheit, an Züchtigung erinnerte.
Die Männer markierten ein forsches, ja einschüchterndes Auftreten, schlugen immer wieder ihre Stiefelabsätze mit einem lauten Knall zusammen und reckten sich dabei mit vorgestreckter Brust und erhobenen Armen in die Höhe. Sie schrien Worte wie Volksbefreiung, Verräter, Auschwitzlüge, Nationalstolz, Juden. Man konnte nur einzelne Wörter verstehen, denn ihre fanatische Proklamation ging im eigenen Geschrei unter. Unbegreiflicherweise unterbrach niemand diese Kundgebung. Die Menschen standen wie gebannt und doch neugierig vor den Akteuren. Da sah ich ein mir bekanntes Gesicht: es war das des Herrn Frankl. Er schien etwas zu sagen, aber ich konnte wegen des Geschreis nichts verstehen. Und dann sah ich, wie einer dieser Burschen mit seiner Faust in Richtung von Frankls Kopf schlug, ihn aber nicht traf.
Da drückte ich auf den Auslöser meines Fotoapparates, den ich bei meinen Spaziergängen stets bei mir trug und den ich kurz zuvor schon aus der Fototasche herausgenommen hatte. Es machte klick und nochmals klick, dann hatte ich die Aufnahmen. Und schon rannte ich in Richtung einer Telefonzelle vor der auf dem Platz befindlichen Konditorei. Ich wählte den Polizeinotruf. Nach kurzem Läuten meldete sich eine Stimme, und ich hörte mich sagen: „Kommen Sie, kommen Sie schnell, hier ist etwas Unbegreifliches im Gange: eine, wie ich glaube, illegale Kundgebung von Neonazis mitten auf dem Stephansplatz; ich erstatte hiermit Anzeige.“ Ich nannte noch meinen Namen und meine Wohnadresse.
Nach meinem Anruf kehrte ich gleich wieder zur Menschenmenge, die sich schon etwas gelichtet hatte, zurück. Ich erinnere mich, daß ich zu den Neonazis dann noch hingerufen habe, daß ich die Polizei verständigt hätte, worauf sie nur lachten und mir den sogenannten Stinkefinger zeigten und mich „Linkes Arschloch!“ nannten. Es dauerte, wie mir schien, sehr lange, bis die Polizei, eine Funkstreife, am Tatort eintraf. Und auch dann schritt sie eher gemächlich als zügig zur Amtshandlung, die nur darin bestand, daß zwei Polizisten in lässiger Haltung mit den nun ebenfalls nicht mehr so stramm dastehenden Neonazi-Provokateuren redeten. Was dabei herausgekommen ist, weiß ich nicht. Ich suchte Herrn Frankl und fand ihn gleich in der daneben liegenden Passage zwischen einer Buchhandlung und dem Café Europa. Er lehnte an der Mauer und rauchte eine Zigarette, wobei er den Rauch hastig einsog. Seine ganze Haltung war niedergedrückt, sein Gesicht grau, er zitterte. Ob ihm nicht gut sei, fragte ich ihn. „Nicht so sehr“, antwortete er, aber das gehe schon vorüber. Ich kam sofort auf den soeben miterlebten Vorfall zu sprechen und gab meiner Empörung lautstark Ausdruck. „So etwas mitten in Wien“, sagte ich, „mitten hier in Wien. Und alle diese Leute schauen nur blöd dabei zu, hören sich das alles an und schweigen. Niemand hat protestiert, außer Ihnen, Herr Frankl“, sagte ich; „und ein paar Touristen, Engländer, Amerikaner oder Franzosen, wie ich glaube.“ Herr Frankl schwieg. „Ja“, sagte er dann mit brüchiger Stimme, „so ist das.“
„Begleiten Sie mich vielleicht nach Hause“, fragte er mich und sah mich dabei fast bittend an. „Ich wohne ganz in der Nähe“, fügte er hinzu; „in der Straße, die den gleichen Namen trägt wie Sie.“ Dabei sah er mich fast vertrauensvoll an. „Ich habe die Polizei verständigt“, sagte ich. „Ja“, meinte er, „das war gut.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber das wird nichts nützen.“ Dabei schüttelte er den Kopf und sagte: „Das alles hört anscheinend nie auf, das lebt immer noch weiter, das lebt immer wieder auf.“ Dann schwieg er. Wir gingen ohne ein Wort die kurze Strecke bis zum Haus, in dem er wohnte. Auf dieser kurzen Wegstrecke und in dieser knappen Zeit schien er sich immer mehr in sich selber zurückzuziehen. Es war spürbar, wie er sich wie mit einer Mauer umgab und plötzlich wie ein Fremder, dem ich den Weg zeigte, neben mir herging. Beim Haustor angekommen, suchte er in seinen Taschen umständlich nach dem Schlüssel, den er erst nach einer geraumen Weile fand. Als er das Haustor aufsperrte, zitterten seine Hände. Beim Hineingehen drehte er sich zu mir um und sagte mit fast tonloser Stimme: „Sie müssen nämlich wissen, ich bin Jude, ich war in Auschwitz, in dieser Hölle; und ich habe sie überlebt.“ Dann fiel die Tür mit einem scharfen Geräusch ins Schloß.
Ab diesem Vorfall sah ich den alten Herrn nur noch selten. Er schien nicht mehr so oft auszugehen. Vielleicht verkehrte er jetzt auch in anderen Lokalen, oder er war für längere Zeit verreist. Möglicherweise hielt er sich auch in seiner Geburtsstadt Preßburg auf, das jetzt Bratislava hieß. Jedenfalls sah ich ihn längere Zeit nicht mehr. Es war, als sei er wie vom Erdboden verschwunden, als hätte er sich unsichtbar gemacht, als sei er wieder in sein Schneckenhaus zurückgekrochen. Ich vermißte ihn und die Begegnungen mit ihm. Das mir schon vertraute Begrüßungsritual fehlte mir; vor allem sein Gesicht, das nun aus meinem Leben verschwunden war. Ein Platz, an dem früher etwas gewesen war, war plötzlich leer geworden.
Aber auch ich hatte begonnen, mich von den vielen Treffen mit Freunden und Bekannten, von den früher häufigen und intensiven Nachtgesprächen und hitzigen Diskussionen in jenem Café, wo der alte Herr und ich uns immer begegnet waren, zurückzuziehen. Immer weniger interessierten mich diese pseudophilosophischen Scheindiskussionen um Existentialismus und über den Sinn des Lebens. Ich begriff, daß die Wirklichkeit des Lebens und der Geschichte in den Ereignissen und ihren Auswirkungen lag und nicht in der Philosophie, nicht in Hypothesen, die beliebig aufgestellt, diskutiert, als Evangelium ausgerufen oder verworfen wurden und von denen eine die andere je nach Zeitgeist und Mode ablöste. Ein intellektuelles Spiel war das, mehr nicht. Einschneidende Ereignisse veränderten etwas. Das weltpolitische Geschehen war wichtig. Das war entscheidend für das Leben, für die Geschichte, für die Welt. Die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy war ein solches Ereignis, ein Wendepunkt. Dann der Krieg in Vietnam, die Ermordung von Martin Luther King, die Watergate Affäre. Das Leben spielte sich nicht in künstlichen Paradiesen ab, sondern draußen in der Wirklichkeit. Oder vielleicht auch im Kopf eines einzelnen, so wie in dem des mir bekannten alten Herrn.
Ich hatte ihn wiedergetroffen; eines Nachts, da ich lange nach Mitternacht wieder einmal jenes Café betrat, weil es das einzige Lokal war, das um diese Zeit noch geöffnet hatte. Er saß so wie früher an jenem Tisch, an dem wir uns einmal vor langer Zeit einander vorgestellt hatten. Er saß genauso bewegungslos und in sich versunken da, schaute mit seinen großen dunklen Augen irgendwohin in die Ferne, wie auf einen bestimmten Punkt. Er hatte seine Zigarette zwischen den Fingern und den kleinen, schon kalt gewordenen Mokka vor sich auf dem Tisch. Alles war so wie früher und mir bekannt und vertraut. Wir grüßten einander, aber ohne uns beim Namen anzusprechen, nur mit einem leichten Kopfnicken in Richtung des anderen. Ich wagte es nicht, ihn zu fragen, ob ich an seinem Tisch Platz nehmen dürfe. Und auch er machte keinerlei Anstalten, mich dazu einzuladen. Eine unsichtbare Grenze schien wieder zwischen uns gezogen worden zu sein. Jeder war und blieb in seinem Bereich, so wie früher, wie am Anfang unserer Begegnungen. Auch unsere Blicke trafen sich nicht, nachdem ich etwas entfernt von ihm, aber doch in seiner Blickrichtung an einem der Tische Platz genommen hatte. Auch ich rauchte und blätterte gedankenlos in einer Zeitung. Ich vermied den Blick hin zum alten Herrn und ich war mir sicher, daß er umgekehrt das Gleiche tat.
Es war schon sehr spät geworden, schon nach zwei Uhr. Um diese Zeit sperrte auch dieses Café zu. Der Ober räumte schon alle Wassergläser weg, sagte „Austrinken, bitte!“ und stellte die Stühle mit der Sitzfläche nach unten auf die großen runden Marmortische, öffnete weit die Tür. Die Zeit des Aufbruchs war da. Ende des Aufenthaltes hier. „Morgen ist wieder ein Tag“, sagte die Chefin. Ich zog meinen Mantel an – es war schon Spätherbst und draußen kalt – und ging zur geöffneten Tür. Der alte Herr hatte sich ebenfalls von seinem Sitz erhoben und war gerade dabei, sich seinen Mantel anzuziehen. „Darf ich -?“, fragte ich beim Vorbeigehen, und half ihm in seinen schweren Mantel. Gemeinsam verließen wir das Lokal. Ohne ein weiteres Wort schlug ich mit ihm die Richtung ein, in die er nach Hause zu gehen hatte. Anfangs sprachen wir nicht miteinander. Doch plötzlich fragte mich der alte Herr: „Was haben Sie übrigens mit den Fotos gemacht, die Sie damals bei jenem Vorfall mit den Neonazis geknipst haben?“ Ich erzählte ihm, daß ich sie im Anschluß an die Affäre verschiedenen Tageszeitungen und auch der Polizei angeboten habe, aber daß sich niemand dafür interessierte. Das seien „nur ein paar Spinner“ – so die allgemeine Resonanz damals. „Ja, so ist das“, sagte der alte Herr.
Warum er immer so spät und bis tief in die Nacht hinein in diesem oder in einem anderen Kaffeehaus sich aufhalte, er sei doch schon, mit Verlaub, ein etwas älterer Herr, fragte ich ihn. „Weil ich nicht schlafen kann, weil ich keine einzige Nacht schlafen kann, nicht mehr schlafen konnte, nach Auschwitz“, sagte er. „Immer diese Gesichter, diese Bilder, die ich schon tausende Male gesehen habe, in Wirklichkeit, im Traum, bei Tag und bei Nacht. Ständig begleiten, ja verfolgen mich diese Gesichter. Immer sehe ich die großen, weit aufgerissenen Augen und die offenen Münder der Toten; und die harten, ausdruckslosen Gesichter, diese Maskengesichter der Täter, der Schergen, der SS-Wachleute und KZ-Kommandanten. Und ich höre das Bellen der Hunde, das Schreien der Gefolterten, die Schüsse am elektrisch geladenen Stacheldraht; und ich spüre das lautlose Sterben so vieler in der Nacht. Und ich sehe die schwarzen Züge des Todes, die Nachschub bringen aus ganz Europa. Und ich sehe die Menschen, in das grelle Scheinwerferlicht getaucht und wie sie in Auschwitz-Birkenau die Züge verlassen, an der Rampe in langen Reihen aufgestellt sind und wie sie selektiert werden: die einen für den sofortigen Tod, die anderen für eine wie zufällig noch gewährte, unabsehbare Lebensfrist, für einen vorübergehenden Aufenthalt in der Hölle. Und immer rieche ich noch den süßen Geruch verbrannten Fleisches und sehe den Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien. Und wenn ich Asche sehe, Asche meiner Zigarette zum Beispiel, dann denke ich an ausgelöschtes Leben, an das was davon übrigbleibt, von uns allen. Alles wird zu Asche; das ist das Einzige, was es dann von uns noch gibt. Und auch die verweht der Wind.“
Der alte Herr atmete mühsam und mit dem Mantelärmel wischte er sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Ohne ein Wort gingen wir den Weg weiter. Dann sagte er nach einer Weile: „Und weil ich nicht schlafen kann und alle diese Gesichter mich bis in den Schlaf hinein verfolgen, bleibe ich wach, oft die ganze Nacht, viele Nächte hindurch, bis ich dann doch vor Erschöpfung einschlafe. Und in diesen Nächten male ich diese Gesichter und die mir bekannten Szenerien, ich male die Wirklichkeit des Todes und die Wirklichkeit des Menschen, wie sie in Auschwitz war. Ich habe in all den Jahren in diesen Nächten meine Bilder gemalt; viele, viele Bilder, ich weiß gar nicht wieviele. Wenn ich mit einem Bild fertig bin, sehe ich es nicht mehr an. Ich stelle es zum Stapel der anderen und beginne ein neues. Und so überdeckt jedes neue Bild das vorherige. Und alle Bilder stellen das Gleiche dar: den Menschen in seinem Leiden, aber auch in seiner nur ihm möglichen Grausamkeit. Mensch und Unmensch, das ist das Thema. Und Auschwitz natürlich, als Inbegriff all dessen, was die Wirklichkeit des Menschen ist, sein kann. Ich stelle dar, was und wie alles gewesen ist. Das ist meine Welt, in der ich lebe, in der ich auf diese Weise überlebe. Ein anderes Leben gibt es für mich nicht, nicht mehr.“
Wir waren schon fast am Ende des Weges, ganz in der Nähe des Hauses, in dem der alte Herr wohnte und wo er nachts seine Bilder malte. Es war kalt, mich fröstelte, und es hatte zu schneien begonnen. Der erste Schnee! Die weißen Schneeflocken schwebten vom Himmel herab durch die uns umgebende Nacht lautlos zur Erde nieder. Auf dem weißen gewellten Haar des alten Mannes sammelten sich einige Flocken und zerschmolzen dort. Der alte Mann ging schweigend und wie mir schien noch tiefer gebeugt als kurz vorher neben mir. Wir näherten uns dem Haus, es lag im Dunkel, kein Fenster war erhellt, kein Licht leuchtete. „Es ist immer die Nacht“, sagte er, „in die wir hineingehen und in der wir am Ende auch verschwinden.“ Ein mir unbekanntes Gefühl für diesen alten Mann, für diesen Menschen, der mir sein Leben geoffenbart hatte, stieg in mir auf und rührte mich fast zu Tränen. „Aber es gibt morgen auch einen neuen Tag“, hörte ich mich sagen. „Ja“, erwiderte der alte Herr, „es gibt wieder einen neuen Tag“; und nach einem Atemzug fügte er hinzu: „auch für mich, vielleicht“.
***
zuletzt erschienen: Tagtraumnotizen von Peter Paul Wiplinger. Löcker Verlag,Wien 2016
Peter Paul Wiplinger ordnet sich in seinen Tagtraumnotizen und Venezianischen Notizen keiner literarischen Erwartungshaltung und Dramaturgie unter, sondern erzählt in dieser Form der Textierung von seiner realen Erlebniswelt, die bei den Venezianischen Notizen aus der unmittelbar erlebten Alltagswirklichkeit resultiert und in den Tagtraumnotizen aus einer Erinnerungswelt, die kaleidoskopartig aus Erinnerungsbildern von frühester Kindheit bis in das Jetzt reicht. Die Texte leben von einer assoziativen Bilderwelt, wobei sich die Bilder in einem eigenen und eigenwilligen Erzählduktus aneinanderreihen und in ihrer Gesamtheit doch eine Einheit bilden.