Wenn ich an Ibrahim Rugova denke, so sehe ich ihn vor mir als einen schmächtigen Mann, der stets etwas gebeugt ging und fast zerbrechlich wirkte; immer mit seinem Markenzeichen: einem Schaltuch, um seinen Hals gewunden; und mit der unvermeidlichen Zigarette in der Hand. Stets wirkte er wie in seine Gedanken versunken. Wenn er kurz aufsah und einen ansah, durch seine etwas altmodischen Brillen mit den dicken Gläsern, so konnte man fast so etwas wie eine melancholische Traurigkeit in seinem Gesichtsausdruck wahrnehmen. Und wenn er schon einmal lächelte, was nur selten der Fall war, dann war dieses Lächeln wie das eines Menschen, der sich bei seinem Lächeln ertappt fühlte. Ibrahim Rugova war ein scheuer, ja ein wie in sich eingeschlossen wirkender Mensch. Aber er war zugleich einer, der ein Ziel hatte, dieses unermüdlich und unnachgiebig verfolgte; und dabei etwas bewirkte und am Ende das erreichte, was er angestrebt hatte. Und heute, zehn Jahre nach seinem Tod, gedenken wir seiner in Verbundenheit, ja sogar mit einer gewissen Ehrfurcht; denn er war trotz seiner augenscheinlichen körperlichen Zerbrechlichkeit ein großer und starker Mann, ohne den sein Land nicht das wäre, was es heute ist: ein um seine Selbstständigkeit ringender, aber diese Selbständigkeit erreicht habender Staat. Und das ist diesem Mann Ibrahim Rugova, dem Literaturwissenschaftler, dem Universitätsprofessor und geistigen Führer, dem späteren Präsidenten des Kosovo zu verdanken.
Stets betonte Rugova das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Dies weil er ein überzeugter Humanist war, der auch bei seinen staatspolitischen Zielen nie das Menschliche, das menschliche Maß, die menschlichen Grundrechte aus den Augen verlor. Er wußte, daß der Kampf, vor allem mit einem mächtigen und skrupellosen Gegner (Slobodan Milošević), kein Spaziergang war; er kannte Unterdrückung und Gewalt. Er wußte, wie weit und wie schwierig der Weg in die Befreiung, in die Freiheit sein würde und war. Er ging diesen Weg, mit seinen Weggefährten. Und das Ziel wurde schließlich erreicht; auch wenn noch viel zu tun ist, um dem Kosovo international jenen realen Status zu geben, den Rugova angestrebt hat und den ein souveräner Staat einfach braucht.
Mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen, seit ich Rugova in Struga/Makedonien sowie in Bled/Slowenien bei Schriftstellertagungen begegnet bin. Aber immer noch sehe ich ihn vor mir, wie er zwischen dem ehemaligen Goli Otok-Häftling Branko Hofmann und dem in Triest lebenden ehemals von den Nazis verfolgten Boris Pahor im Boot mir gegenüber sitzt. Man ruderte uns hinüber zur Insel mitten im See. Und dann gingen wir gemeinsam langsam die Stufen der steilen Steintreppe hinauf. Es war mühsam, so wie der politische Weg, den Ibrahim Rugova sein Leben lang gegangen ist. Dieses Hinaufgehen war beschwerlich; aber Ibrahim Rugova ging entschlossen und zielbewußt; und er lächelte dabei.
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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.