zum bild »Elbehochwasser« von uwe albert
zeigt das bild eine gartenidylle auf geisterfahrt? oder ist es eine arche des jenseits, die im strom treibt, der nicht mehr zu dieser welt gehört? und verbirgt sich darin, zusammengekauert wie die toten, ein noah ohne familie, also menschheit? der ruderer davor scheint noch ans diesseits zu glauben. denn er rudert ja. zugleich reißt ihm der schreck vorm kommenden die brille, das klarauge, von der nase. fährt er vor oder nach einer sintflut, die ihn taufen soll, davon? oder ähnelt er selber einem noah und flieht, wissend daß rettung nicht naht, wo sie als symbol erscheint, vor der arche, die ihn verfolgt? oder sitzt gar ein selbstmörder oder attentäter auf selbstgebautem totenkahn im schwimmenden haus? oder stellt das bild das schicksal des künstlers dar, der die perspektive vor und hinter sich hat: entweder treibgut werden oder einsam bleiben?
gleicht der noah im haus don quijote, wie ihn die propheten beschrieben hätten, einem illusionslosen träumer, der an seine visionen glaubt, da alle wirklichkeit hinter ihm liegt? sieht er in den gänsefußförmigen ruderstangen windmühlenflügel und legt mit seinem gefährt darauf an? oder ist die arche ein geschoß der götter, für die menschen kleinvieh sind, das sie stört, lärmend wie stiere? oder geschieht diesmal das gegenteil, ein kosmischer tausch: die götter kehren nach der flut, vor der sie in den himmel fliehen mußten, zurück auf die erde und die menschen müssen den himmel erobern? weshalb sieht man keine tiere auf der arche? hat sich der mensch ihrer entledigt? oder sind sie selbst, durch erfahrung klug geworden, geflohen? läßt noch jemand tauben fliegen, um die zukunft zu erkunden? wird abermals der rabe aas fressen und die schwalbe lehm und die taube den ölzweig vom land bringen? oder treiben beide gefährte auf einen felsentiefen wasserfall zu, der sie verschlingt?
meint die zahl am ufer den abstand zur grenze oder quelle des diesseits oder jenseits? oder die geschwindigkeit des ruderers, zeichen seiner überwirklichen existenz? oder die größe des noah, wenn er, einem gilgamesch gleich, in der arche erwacht? oder die anzahl der jahre bis zur ankunft des nächsten phönix? den messias wird die zahl nicht meinen. denn er kommt durch die pforte jeder sekunde. und kann doch nur wirken, wenn er nicht erscheint. oder treibt der messias wie der kapitän eines totenschiffs auf den meeren, gefesselt an den totenbaum seines masts, damit wir ihn nicht hören? und werden dann vom ufer her noch frauen nach ihm rufen, um ihm das blut auszusaugen, betörend und grausam mit hellen stimmen?
rettet am ende vielleicht ein göttlicher adler alle zusammen aus den fluten? oder ist der bote der götter ein greif, der die menschen frißt in gartenhaus und ruderboot? oder bringt er seine menschliche beute, anstelle von ochsen und pferden, seinen jungen zur nahrung ins nest? wer legt ihn dann an die leine, bis er sich friedlich mit pfauenfedern schmückt? oder trägt er erneut nur die totenseelen der irdischen halbgötter auf gondeln durch die lüfte und fährt sie im wagen zum himmel? oder warnen vorher zwei menschengesichtige vögel vor der reise ins land der götter?
wird die arche den ruderer rammen, wenn er dem leben, also tod, mithin der auferstehung, nicht ausweichen kann? oder hat der zusammenstoß längst stattgefunden und die zeiten fallen wieder auseinander? ging der tod ohne berührung wie eine fata morgana über das leben hinweg, das selbst eine fahrt auf der barke ist? können wir vom dasein, das uns widerfährt, einzig bilder und zeichen erfassen, die vieles ahnen, aber wenig wissen lassen? bleibt den sehenden nur, beizeiten das jenseits zu kennen, damit sie, sich erneuernd durch den tod, darin schutz und orientierung finden, bis das leben auf erden neu beginnt, am anfang der welt, als der tod noch nicht geboren war?
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Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.
meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.