Die Polizei fand ein Flugticket in Manfreds linker Manteltasche: Berlin Tegel nach Diosdado Macapagal International Airport. Liebhaber junger Haut sagen meistens: Clark International Airport. Oder noch einfacher: Angeles City. Direktflug. One way.
Er hatte nur eine kleine, schöne Tasche bei sich, der Manfred. So eine Arzttasche. Vollrindleder. Kurzer Tragegriff. Bügelverschluss. Die Tasche war geringfügig aufgefaltet, man weiß nicht warum. Ein bisschen frische Wäsche darin, ein einziges Hemd, dunkelblau und sehr korrekt, und eine verdächtige Menge Bargeld. Durchgeweicht, wie seine Kleidung, der Flugschein, die Leiche, alles. Um den leblosen Körper patschte der tiefgründig lehmige kalkhaltige Boden. Blut haftete dennoch auf Manfreds Kleidung, unter dem kurzen Sommerregenmantel. Diffuse Spritzer und ausgebreitete Flecken, längst schwammig konturlos verlaufend, auf Hemd und Hose. Der Mantel wies schrotschussartige Beschädigungen auf.
Der Busfahrer hatte ihn beim Heranfahren dort liegen sehen, auf dem Bauch, trotz des fortgesetzten Starkregens mit schlechten Sichtverhältnissen, ein Stück weit weg vom Haltepunkt, im halbhohen Gras vor der unermesslichen Ebene mit dem proteinreichen traurig niedergedrückten Sommerweizen.
Tot war Manfred nach erster grober Schätzung seit etwa einer Stunde. Plusminus. Vielleicht nicht einmal seit einer Stunde. Der Rechtsmediziner, der wegen der Möglichkeit eines Gewaltverbrechens herbeigerufen worden war, vermied selbstverständlich jede Verbindlichkeit. Noch keine Ausbildung von Totenflecken. Erregbarkeit der Pupillen. Körpergewicht war nicht bekannt. Rektaltemperatur, Umgebungstemperatur, Korrekturfaktoren. Postmortales Temperaturplateau. Wobei die Abkühlgeschwindigkeit von Körperhaltung, Art und Durchfeuchtung der Bekleidung, Körperproportionen und so weiter abhängt. So einfach ist das alles nicht. Manfreds Schuhe waren zerfetzt. Eine unmittelbare eilige Beschau des Körpers brachte ein arborisiertes Erythem im Bereich des Unterbauches und auf den Vorderseiten der Oberschenkel zu Tage. Eine deutlich ausgeprägte Blitzstraße war zu erkennen.
Lastende Schwüle stand in der nebelgleichen Feuchtigkeit neben dem Weizenfeld, und der Körper Manfreds, der da lag, war weder warm noch kalt. Der Bus fährt hier nicht oft, zwischen den Kleinstädten und Dörfern der Provinz, gerade oft genug.
Wenig später traf man seine Frau im nahegelegenen gemeinsamen Reihenhaus des Ehepaares nicht an, genauer: niemand öffnete nach mehrfachem Läuten und Klopfen an der Haustür. Aber aus dem geschlossenen Kofferraum des vor der Garage geparkten silbergrauen Opel Calibra 16V C20XE – Baujahr 1994, 110 kW, Borbet Felgen 7,5X16 –, den Manfred einst in Wochen andauernder Maloche von einem verkommenen Gebrauchtwagen zum hochglanzpolierten Sammlerstück verwandelt hatte, ragte der eingeklemmte Ärmel eines grünen Nylonblousons. Neben und hinter dem Calibra glaubten die beiden Beamten eine Art Peripherie weggespülter Blutlachen auszumachen. Eindeutiges war nicht erkennbar, die Wucht des Regens hatte sich der Leistung eines Kärcher K7 Premium Full Control zumindest angenähert.
Die Haustür wurde gewaltsam geöffnet: Blut überall im Flur, in langgezogenen breiten Streifen. Schleifspuren. Manfreds Ehefrau fand man nach rascher Umschau tot in den Räumlichkeiten im Untergeschoss, im Waschkeller, gekrümmt neben dem Wäschetrockner. Dem ersten Augenschein nach im Blut zahlreicher Stichwunden.
Aus dem Kofferraum des Opel Calibra förderten sie den entseelten Gas- und Wasserinstallateur, der vormittags noch, wie die spätere Befragung mehrerer Mitarbeiter durch Kriminalbeamte in der Firma des Handwerkers ergeben wird, eine frivole Bemerkung über Manfreds üppige und reizvolle Frau gemacht hatte, die er von zwei früheren Reparaturen eines Durchlauferhitzers und eines Pumpwerks bereits kannte, zu Tage. Mehr als Anzüglichkeit sei das gewesen: Das is n Weib. X-Typ. Über und unter dem Schnittpunkt der X-Achsen schon mollig. Aber ne Taille, alle Hagel! Echte Sanduhr. Aber trotzdem drall sag ich euch. Ein wahres Wunder von Mutter Natur. Da wabbelt nichts. Die müsste mich nur ma ranlassen. Aufm Küchentisch.
Jetzt im Kofferraum eines 22 Jahre alten Opel Calibra. Sein grüner leichter Nylonblouson nachlässig auf seinen angewinkelten Beinen liegend, das Ende des aus dem Kofferraum hängenden Ärmels mit Strickbund regennass. Der Schädel zermanscht. Entstellt eventuell mit einem größeren Hammer. Kein Vorschlaghammer, ein Fäustel möglicherweise. Etliche Schläge. Der Mann war gekommen, um sich sich den schadhaften Anschluss der Waschmaschine anzusehen, nicht wegen Manfreds Frau und der Sache mit dem Küchentisch, immerhin, von der er niemals wieder fantasieren würde. Warum er mit seinem geborstenen Schädel im Kofferraum des Opel Calibra verstaut worden war, wird für alle Zeit mehreren voneinander abweichenden Spekulationen überlassen bleiben.
Die Eltern der erstochenen Ehefrau betrieben eine Rinderzucht am anderen Ende des Dorfes. Weil sie schon alt waren, mussten sie drei Saisonarbeiter bezahlen und bei sich wohnen lassen.
Die Polizei musste die Eltern über den Tod der Tochter und des Schwiegersohns in Kenntnis setzen, der Hof jedoch schien still, auf den ersten Blick verlassen. Nachbarn berichteten von der Betriebsamkeit, die normalerweise herrschte. Die Rinder brüllten vor Hunger.
Bei der folgenden Durchsuchung des Hofes entdeckte man die Leiche des Vaters in einem Getreidesilo. Die Tatwaffe, eine Heugabel, steckte noch in seiner Brust. Der Gabelkörper mit seinen drei gekrümmten Zinken war fast bis zur Schienenzwinge eingedrungen. Der verwitterte Eschenstiel war über der Zwinge abgebrochen, gewisslich beim Sturz des Körpers in das Silo.
Die Mutter fand man in einer Kühlkammer im Keller des Wirtschaftshauses. Die blutverschmierte alte Sense, rasiermesserscharf geschliffen, befand sich gemeinsam mit dem abgetrennten Kopf der alten Frau in einer gegenüberliegenden Ecke, neben den abgenutzten faserigen Holzstiegen, die hinauf in die Wohnung des Ehepaares führten.
Die drei Knechte, zwei junge kräftige Burschen aus Polen und ein älterer Syrer mit grau meliertem Lockenschopf, wurden während einer ausgeweiteten Suche neben einer Weide beziehungsweise, der Syrer, auf der von der Fassade des Haupthauses abgewandten Seite der Stallungen in einem Maisfeld gefunden. Alle drei Körper in reichlicher Entfernung vom Hof. Sie waren wohl mit einer Spaltaxt erschlagen worden. Es schien, als hatten sie fliehen wollen. Die Tatwaffe lag neben dem einst grau melierten Lockenschopf des Syrers. Schmutzigbraunes war da nun und Weißes und Braunrotes, wie Erbrochenes in einem Wischmopp aus Baumwollgarn. Er wurde denkbar als letzter gemeuchelt, der Syrer, vielleicht nachdem er sich zunächst verborgen gehalten hatte um schließlich, wie die beiden Polen vor ihm, loszurennen, in das Maisfeld. Er wollte es schlauer anstellen als die Kollegen, indem er mehr oder weniger kalten Blutes einen günstigen Moment zum Loslaufen abgewartet hatte. Hypothesendunst.
Der Gas- und Wasserinstallateur hatte wohl Pech, so hieß es später, er überraschte den mutmaßlichen Täter, Manfred, während oder vor oder nach der Ermordung seiner Ehefrau.
Ob die Schwiegereltern und die Saisonarbeiter unmittelbar vor oder unmittelbar nach dem Mord an seiner Frau getötet wurden, konnte nicht zweifelsfrei ermittelt werden.
Die Polen und der Syrer mussten sterben, weil sie irgendwie dazu gehörten oder weil sie Zeugen waren oder, so ein Ermittler, weil Manfred sich in einem Blutrausch befand.
All das soll er getan haben, der Manfred. So sieht es aus. Das Blut auf seiner Kleidung. Das Bargeld in seiner Arzttasche. Der merkwürdige Fluchtversuch, das Davonlaufen nach Angeles City.
Zerstörung und Neubeginn. Warum, das wusste nur Manfred. Er hatte sich für ein neues Lebensumfeld entschieden. Kinder hatte er keine und seine Eltern waren vorzeiten verstorben. Der Vater an Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Knochenmetastasen, die Mutter hatte sich erhängt; später, nachdem ihr Mann sie hatte hängen lassen, wie sie ihr Fatum auf befremdliche Art verbal vorweg genommen hatte. Sie war also streng genommen nicht verstorben und es war auch nicht ihr Mann gewesen, der sie hatte hängen lassen – freilich sah sie es so – sondern hatte sich ein Ende gesetzt. Und Manfred hatte sich nun, all die Jahre später, sozusagen ebenfalls einen Endpunkt des Bisherigen gesetzt. Brücken zerstört. Vergangenheit ausgelöscht. Daseinsspuren entfernt. Wiederkehr verunmöglicht. Er hat nicht einmal den Versuch unternommen, sein Handeln zu verschleiern, die Niedergemachten zu verstecken, falsche Spuren zu legen oder seine Spuren zu vermeiden oder wenn schon zu beseitigen. Warum hat er nicht seine Arzttasche genommen, sein Geld und sein Ticket und ist gegangen, mit oder ohne Erklärung, mit oder ohne Abschiedsbrief. Alles hinter sich lassend. Warum musste er, gleichsam seine Geschichte – in der Bedeutung von fehlerhaft? – tilgend, aus Blut auferstehen? Manfred in Berserkerwut. Ein Tierkrieger ohne Wolfspelz.
Der wollte nach allem einfach so rüber nach Angeles City. Es ist weit bis dorthin. Da gibt es viel junge Haut, Mädchen mandeläugig und samtigzart, sehr jung denn mit 20 sind die schon schlaff. Ja, der Manfred. Liebte junge Haut.
Und dann gerät er da oben am Bushaltepunkt, beinahe am Bushaltepunkt, am Rand eines ausgestreckten vom unablässigen Regen misshandelten Weizenfeldes, in dieses infernalische Gewitter. Mit seiner Arzttasche, seinen paar Klamotten, den schnöden Kröten vom Sparbuch und Girokonto, mit dem Blut der anderen auf seiner Kleidung unter dem kurzen Sommerregenmantel. Der Mantel war einst beige gewesen, und nun war er dunkelgrau, als man ihn fand. Wegen des Regens. Auf dem Weg nach Angeles City. Und wird vom Blitz erwischt, von Jupiter in Besitz genommen und erledigt. Und ist also auf Erden tot. Für eine Millisekunde bis zu zwanzig Millionen Volt. Muskelkontaktionen, Kammerflimmern, Herzrhythmusstörung. Atemlähmung. Aus.
Man könnte fast wieder an einen Gott glauben: einen grausam gerechten, strafenden, sadistisch perversen, gewissermaßen ebenso ordnungsliebenden, ohne exakt aufzurechnen doch auf den Erhalt eines abwegigen Gleichgewichts der Werte bedachten Gott.
Er muss ein Zyniker sein. Er hätte die anderen beschützen können.
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Der Essay Sind wir nicht alle ein bisschen COPY & Paste? wurde beim KUNO-Essaypreis 2013 mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Die Begründung findet sich hier.
Die Redaktion verlieh Denis Ullrich für einen weiteren fulminanten Text den KUNO–Essay–Preis 2015.
Lesen Sie bitte auch: Fragmentarischer Versuch einer Prosaverortung und den Prosaüberflug Lost in Laberland.