Willbert und Noëmi Neumann haben sich unabhängig gemacht. Die beiden Ärzte haben sich als freiberufliche Biowissenschaftler in Bonn niedergelassen und die Aktiengesellschaft Bio–Tissue Technologies gegründet, die Zuchtorgane vertreibt. Das Ehepaar begründete damit die industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts, einen Milliardenmarkt für künstlich erzeugte Organe. Nach Bestellung bekommen die Kunden aus keimfreier Verpackung eingesetzt, was sie an Ersatzteilen benötigen. Die Unternehmer verlängern Leben, tragen damit erheblich zur Wertschöpfung bei und erzielen High–Tech–Werte an den Börsen. Bis es dahin kam, mussten die beiden Nobelpreisträger viel erdulden.
Das Ehepaar hatte bei der gemeinsamen Arbeit in der Transplantationsabteilung des Marienhospitals leidvoll erfahren, dass bedürftige Patienten monatelang auf ein Spenderherz, eine Niere oder eine Leber warten und auf den Tod eines anderen hoffen. Doch die frischen Leichen vermochten den Bedarf an menschlichen Ersatzteilen nicht mehr zu decken. In Europa harrten zu dieser Zeit allein 58.000 Menschen auf eine neue Leber, aber nur 4.200 Lebern wurden pro Jahr aus Verunglückten und Komapatienten herausgeschnitten und Kranken eingepflanzt. Die übrigen auf der Warteliste starben.
»Was morgen möglich wird, ist bereits in Planung«, forderte Dr. Neumann in einem Vortrag seine Kollegen an der Düsseldorfer Universitätsklinik auf, Adern, Lebern und ganze Herzen in Glaskolben heranzüchten. Er prophezeite, dass Organe in Wärmeöfen aufgehen wie Hefegebäck. Bei seinem Vortrag kamen sich Selbstbewusstsein und Narzissmus immer mit Schüchternheit und Unbeholfenheit in die Quere. Schwärmerisch skizzierte er auf dem Kongress die Möglichkeiten der neuen Medizin mit den Züchtungen der Schönheitschirurgie neue Tore aufstossen zu können. Soziale Probleme sollten durch eine bessere Technologie begradigt werden. Nasen und Ohren nach Wunsch am Computer entworfen, in Formen umgesetzt, im Reaktor erbrütet werden.
Die Kollegen auf dem Gebiet der Gewebekonstruktion beobachteten den Pionier mit Einverständnis und Befremden zugleich. Die Bioingenieure misstrauten ihm ganz. Deutschland galt zu dieser Zeit noch als Niemandsland im Reich der Antikörper, beherrscht von strengen Auflagen und noch strengeren Demonstranten, die hinter jedem Genversuch Gefahren witterten. Selbst sein Onkel, Professor Lurk, bemängelte:
»Noch ist nicht einmal klar, ob Kunstgebilde aus weichem Knorpel nicht nach einiger Zeit einfach zusammenbrechen. Es können sich die Retortenstücke unkontrolliert zu monströser Grösse oder gar zu Tumoren auswachsen; dass bisher niemand dergleichen beobachtet hat, ist jedenfalls noch kein Gegenbeweis!«
Die Höflichkeit verlangte, dass man Dr. Neumann ausreden liess. Dann übergoss man ihn mit hämischem Gelächter. Es begann das rhetorische Duell, der Kampf um Argumente, das Spiel um die Begriffshoheit. Die Industrie zog ihre Angebote auf Förderung zurück. Einem Spinner wollte niemand Venture–Kapital geben, in Düsseldorf schon gar nicht. Nach dem Vortrag war Doktor Neumanns Ruf an der Universität ruiniert. Er war so deprimiert, dass er überlegte, als Entwicklungsarzt nach Indien zu gehen. Nur seine Frau glaubte noch an ihn. Als Noëmi die Baupläne seiner Zuchtvisionen überblickte, sah sie darin:
»Die genialste Idee, die mir je untergekommen ist!«
Sie hatte inzwischen promoviert und war die erste, die es wagte, todgeweihten Kindern Lebern einzupflanzen und stand meistens doch hilflos daneben. Weil sie keine Austauschlebern hatte, musste sie zusehen, wie ihre kleinen Patienten gelb wurden, wie ihre Bäuche aufschwemmten und sie elendig starben. Eine Initialzündung für die Frau, die eigene Kinder kaum auf die Welt bringen wird.
Die Neumanns sind eher Entdecker als Wissenschaftler und gehören zu einer neuen Gattung von Biologen, die sich weniger als Techniker denn als kreative Künstler verstehen. Noëmi arbeitete mit ihrem Mann gemeinsam an dem Projekt. Nachts vollführten sie ihre Experimente, tags mussten sie operieren. Weil niemand einen Laborraum hergeben wollte, bauten sie ihr Geschirr auf Noëmis Schreibtisch auf. Petrischalen und Fläschchen, in denen sie Flüssigkeiten in menschliches Fleisch umwandeln wollten. Mit einem eingefügten Gerüst lassen sich die Zellen dazu überlisten, Gestalt anzunehmen, das war Noëmis Zentralidee. Ein purpurner Cocktail, die Nährlösung aus Eiweiss, Traubenzucker und Spurenmineralien, versetzt mit Penizillin zur Desinfektion, spült über die Gazegeflechte im Bioreaktor. In den Glaskolben des kühlschrankgrossen Geräts, inmitten eines unübersichtlichen Gewirrs aus Pumpen und Schläuchen, unter Kohlendioxydbegasung und bei exakt 36,8 Grad Celsius vollzieht sich die Fleischwerdung, das sonst im Mutterleib verborgene Mysterium. Ein paar tausend Zellen vermehren sich und wachsen wohlgeordnet zusammen.
»Organzellen sind soziale Wesen«, verrät Noëmi eine Erkenntnis. Durch chemische Dialoge, die noch kein Forscher versteht, tauschen sich die Zellen untereinander aus, ziehen sie die richtigen Nachbarn heran und formen Gestalten: Leberzelle an Leberzelle, Aderngeflecht dazwischen, Hüllgewebe aussenherum. Zwischen den Poren einer schwammartigen Gaze aus einem Milchsäurepolymer ersonnen und gesponnen rankt sich Gewebe empor wie Spalierobst. Später löst sich das Stützkorsett auf, die zu Fleisch, Adern oder Knorpel verwachsenen Zellen bleiben. Einem jungen Patienten fehlten aufgrund eines Erbdefektes die Rippen des linken Brustkorbes. Sein schlagendes Herz war nur durch dünne Haut geschützt und im Körper deutlich sichtbar. Inzwischen tollt der Junge auf Rollerblades herum; sie haben ihm einen künstlichen Brustkorb eingesetzt, der mit ihm heranwächst. Gezüchtet wurde der Brustkorb aus Knorpelzellen in einer gestalteten Gussform. Auch Material für Teilreparaturen können die Organzüchter liefern: Gewebefetzen aus Leberzellen als Flicken für alkoholgeschädigte Organe, auf Plastiknetzen gezüchtete kleinere Knorpelstücke, um damit kaputte Gelenke zu reparieren. Knorpel für ein Patent–Knie für Fussballspieler gingen in Serie. Sportlerkarrieren konnten zum Ruhm der Nation verlängert werden.
Damit hatten die Gründer von Bio–Tissue Technologies noch lange nicht genug. Noëmi träumt von ganzen Organkomplexen aus der Retorte, während sich Willi beim Körperrecycling noch mit der Züchtung von Knorpel begnügt. Noëmi kann zwölferlei Arten von Körpergewebe wachsen lassen, doch ihre synthetischen Lebern, Herzklappen und Därme wagt sie nur in Ratten und Lämmer einzunähen. Willi baut Nasen, Ohren, Gelenke und Knochen. Er umgibt sich in seinen Labors mit skurrilen Wesen: Kaninchen, die auf den Löffeln menschliche Ohrmuscheln tragen. Schweinen hat er Retortenohren zwischen die Läufe montiert, in jede Achselhöhle eines. Verpflanzte Organe werden aussen sichtbar.
»Nur dort sind die Artefakte sicher, wenn sich die Tiere im Dreck suhlen«, gibt Willi die nahe liegende Begründung zu Versuchen, die unumgänglich sind. Diese Tiere haben keine Immunabwehr, erkennen die menschlichen Zellen nicht als fremde und spielen die Rolle des lebenden Brutschranks. Das Ohr wird von Rückenmuskeln und Haut der Maus mit Nährstoffen versorgt. Das Schwein ist, immunologisch betrachtet, dem Menschen ein naher Verwandter.
Physik und Informatik waren die durchschlagenden Wissenschaften des 20. Jahrhunderts. Tissue–engineering ist die des 21. Jahrhunderts. In den Kliniken fehlt es an Knochenstücken für entstellte Unfallopfer und Knorpelmaterial für die zerschlissenen Gelenke von Rheuma– und Arthrosepatienten.
»Knorpel ist ein anspruchsloses Gewebe. Es braucht zum Überleben keine eigenen Blutgefässe«, erklärt Willi. Er bestätigt, dass mit Knorpelstücken schmerzende Gelenke geheilt werden. Auch das grösste Organ des Menschen ist rar, die 1,6 Quadratmeter grosse Haut. Willi und Heide kämpfen auf der Verbrennungsstation um das Leben der Patienten mit Leichenhaut oder mit zwiebelschalendünnen Zuchthäuten, die bei jeder neuen Lagerung der Patienten abzuplatzen drohen. „Verbesserungswürdig“ finden sie die Möglichkeiten zur Abdeckung und Behandlung von Hautwunden. Sie bringen Haut aus der Tube auf den Markt und behandeln damit zuerst Patienten mit chronischen Geschwüren an Beinen und Füssen. Innerhalb von 18 Tagen wird aus einer Hautprobe des Patienten eine Lösung mit Oberhautzellen angefertigt. Mit dieser Flüssigzellkultur schliessen sich Wunden nach ein paar Tagen schneller als bei allen anderen Heilversuchen. Mit den Gewinnen können sie das Labor ausbauen.
Willbert und Noëmi Neumann experimentieren mit avancierten Instrumenten der Biotechnologie, benutzen Werkzeuge der genetischen Wissenschaft, um lebende Darstellungen zu erschaffen, wie Maler Pinsel und Farbe benutzen, um etwas darzustellen. Den Durchbruch bringt ein Modellversuch des Tochterunternehmens Trans–Tissue–Technologies. Nach dem Vorbild einer Leber modellieren die Organzüchter ein schwammartiges Geflecht aus Milchsäurepolymeren. Auf dieses Stützgewebe träufeln sie einzelne menschliche Leberzellen. Auf vorgeformten Polymeraden platzieren sie Zellen aus Gefässwänden. Die Zellen beginnen sich zu vermehren. Gelockt von chemischen Ködern und verköstigt durch eine Nährlösung, ranken sie sich an dem Stützgerippe entlang. Die Leberzellen sondern chemische Substanzen ab, die das Spriessen von Blutgefässen steuern. In einem Bioreaktor reift ein ständig durchblutetes und durch Genmanipulationen gewonnenes Organ. Die Immunabwehr des Transplantationspatienten erkennt die Retortenleber nicht als Fremdkörper und stösst sie nicht ab.
Wenn die Abstossungsreaktion des Immunsystems ausreichend unterdrückt wird, kann man alles transplantieren. Sie arbeiten daran, aus körpereigenen Gewebekulturen neue Organe zu züchten. In den Bioreaktoren von Willbert und Noëmi reifen Adern und Herzklappen. Sie züchten zahlreiche Gewebearten, Haut, Sehnen, Knochen, Adern, Harnblasen, Zahnschmelz, Brustwarzen, insulinproduzierende Zellen, Leber– oder Nervengewebe. In ihren Labors wachsen künstliche Lebern und formgetreue menschliche Ohrmuscheln. Bis in der Laborplantage ein Herz geerntet wird, dauert es nicht lange. Auf den lebenden Ersatzteilbanken warten Organe nach Mass auf den Einsatz. Stündlich gehen Kühlboxen mit Lieferungen in alle Welt hinaus.
Damit ist das Ehepaar mit seinen Ideen nicht am Ende angelangt. Hypertrophie paart sich mit Bescheidenheit. Sie suchen nach Erkenntnis nicht wie nach einer einsamen Insel im unermesslichen Meer des Nichtwissens. Ihr Streben gilt einer ausgewählten, bestätigten Bildung im Meer der Erkenntnis. Es geht ihnen ganz um die Heiligkeit des Lebens, die in der Verfassung als die Würde des Menschen von Anfang an auftaucht. Willi vermutet, dass die hypermodernen Menschen Mutanten sind, Prototypen von Agenten der Evolution, um mit synthetischer Biologie eine neue Spezies zu erschliessen, die weisesten Verkörperungen, die die menschliche Rasse jemals hervorgebracht hat.
Das Forscherpaar gewinnt Zellen aus kindlicher Vorhaut, um das Ersatzgewebe Apligraf herzustellen. Die Haut ist aus Fremdzellen gewonnen und wird zur Behandlung von Geschwüren eingesetzt. Im Embryonenschutzgesetz haben sie eine andere Position eingenommen. Man hat diese Debatte lange nicht unter dem Gesichtspunkt einer Verschmelzung von zwei Zellen in vitro geführt, also ausserhalb des Mutterleibs, und die Frage muss erlaubt sein, ob man sich menschliches Leben unabhängig von der Mutter vorstellen kann.
»Ich nenne ein Leben sinnvoll, von dem man eine Zukunft erwarten kann. Ein Leben mit der Chance darauf, einmal als gleichberechtigt akzeptiert zu werden, sobald man einen Raum betritt«, postuliert Noëmi. Das Feuer der moralischen Auseinandersetzung wird neu geschürt, während die schwelende Glut vergangener Konfrontationen erkaltet. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und die Unverfügbarkeit der Menschenwürde müssen aus etwas anderem folgen. Willbert und Noëmi Neumann entwickeln neue Visionen. Am liebsten würden die Neumanns nicht nur lebenswichtige Organe, sondern alles ersetzen, was am Menschen ersetzbar sein könnte.
Mystisches Halbdunkel herrscht in ihrem Labor. Ein Spinnennetz aus grünen und blauen Laserstrahlen ist mit Hilfe dutzender von Spiegeln kunstvoll durch den Raum gewebt. Turbopumpen singen leise im Hintergrund. Hektische Zacken auf Oszilloskopen zeigen den Puls der Maschinerie. Sie arbeiten daran, in Bioreaktoren die Bauteile von Gehirnen zu erbrüten. In Zusammenarbeit mit Geningenieuren wollen sie es fertig bringen, die biologischen Merkmale des Individuums aus den Zellen zu verbannen. Ein einziger Typ Leber, Niere oder Herz sollte für alle Menschen passen, auf Wunsch zu bestellen und beim kleinsten Defekt einzubauen sein. Sie müssten ihre Patienten nicht mehr zusammenflicken, sondern wie Dirigenten das Zusammenspiel von Retortenorganen und Restkörper herstellen. Längst ist ihnen bekannt: Zellen altern durch chemischen Verschleiss. Sie lassen Erbgutmoleküle entschlüsseln. Die Puzzlearbeit soll dazu dienen, neue Therapien gegen Alzheimer, Arthrose und Herz–Kreislaufkrankheiten zu entwickeln. Willbert und Noëmi Neumann sind dabei, einen chemischen Jungbrunnen zu erschaffen. Für die Verwirklichung seines höchsten Lebenswunsches würde Willbert Neumann in jeden Teufelspakt einwilligen, selbst wenn auf dem Beipackzettel als Nebenwirkung der Weltuntergang droht. Menschheitsträume werden wahr: Langlebigkeit, Schutz vor Krankheit und Fehlentwicklungen. Der Zwillingsklon raubt die belastende Illusion, man sei einzigartig. Mit einer perfekten Ersatzteilversorgung rückt das Ewige Leben in den Bereich des Machbaren. Es gibt kein Sterben, sondern nurmehr ein Warten, bis man verschwindet.
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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.