Damals, als die kleinen Geschichten Gustav Meyrinks (jetzt gesammelt in ›Des deutschen Spießers Wunderhorn‹ bei Albert Langen) erschienen, hätten wir es uns nicht träumen lassen, dass dieser große Verneiner (also auch große Bejaher) einmal unter keinem deutschen Tannenbaum würde fehlen dürfen. Es war die junge Generation, die ihn lachend verehrte – und von den Ältern die, die jung geblieben und weise geworden waren im langen Laufe der Zeit.
Heute haben ›Der Golem‹ und ›Das grüne Gesicht‹ zusammen einhundertundvierzig Auflagen erreicht – und damals die kleinen Geschichten zusammen noch keine zehn. Was ist da vorgegangen? Abgesehen von einer mutigen und mustergültigen Reklame.
Zweierlei: Meyrink hat auf die Form, die er meisterhaft beherrschte, nicht mehr acht gegeben, und spricht das Idiom der Masse – und zum zweiten hat er den engen Mantel mit dem weiten vertauscht. Er trug den engen: wem er nicht wie angegossen paßte, der zog ihn nicht an. Haarscharf stand sich Plus und Minus gegenüber, da gab es nichts Verwaschenes, Böcke und Schafe waren genau getrennt.
Da waren auf der einen Seite die Materialisten, die alles erklären und alles mit dem Verstand greifen; die überorganisierte Menschheit, die ihre eigenen Mittel, das tägliche Leben zu bewältigen, als Selbstzweck verehrt; da war das ganze Pack, das seine Kulissen als Erde und Ende aller Dinge begeistert anglotzt – und auf der andern Seite standen stille und weise Menschen, Gütige, die endlich begriffen hatten, dass es hienieden sicher nichts ist, und dass das Jenseits fraglich und vielleicht eine Erfindung ist. Das war in eine scheinbar spielende Form gekleidet, der Extrakt jahrelanger Erfahrungen und wahrscheinlich mit dem allergrößten Fleiß und den herbsten Mühen errungen; der ›Bal macabre‹ ist ein Meisterstück solcher Form. Die Prosa war, lange vor Rilkes Zeit, musikalisch, ohne im Gegensatz zu diesem, auch nur einen Augenblick unklar zu sein – die Sprache sang sich ein Lied.
Wie schön, zum Beispiel, der Satz in der ›Königin unter den Brägen‹, den der Doktor Jorre träumt: »Die einst deines Herzens Königin war, ist Königin jetzt hier unter den Brägen –«. Das las man wieder und immer wieder. Es hat sicher mutigere Groteskclowns gegeben, aber keinen, bei dem – damals – Erkenntnis und künstlerische Kraft sich so genau die Waage hielten.
Das ist heute anders. ›Der Golem‹ und ›Das grüne Gesicht‹ sind ein Abstieg, Nicht etwa wird dies Urteil ihres Erfolges wegen gefällt – obgleich Erfolg immer eine faule Sache ist. Sie sind ein Abstieg, weil die Erkenntnis des Weisen die Kraft des Schaffenden weit übersteigt. Früher saß Satz an Satz wie gegossen: heute wird in Fettdruck gesperrt. Früher hatten alle Figuren scharfe Ränder: heute schwimmt alles. Früher wurde ›an Hand‹ einer kleinen Fabel das große Wissen eines erkenntnisreichen Menschen dem Leser eingepflanzt: heute ahnt man wohl dergleichen, aber man sieht es nicht. An einzelnen Stellen flackert es auf, zum Beispiel im ›Grünen Gesicht‹ am Anfang des zweiten Kapitels, wo die Welt nach dem Kriege witzig und treffend gezeichnet wird, und am Anfang des vierzehnten Kapitels, das an den alten Meyrink gemahnt. Der Rest ist – leider – Mathematik.
Ich zweifle nicht, dass Meyrink zu den einsichtsreichsten Menschen gehört, die unter uns leben. Er weiß ungeheuer viel – nicht Positiva, sondern eben das, was man nicht lernen kann –, er hat tief hinunter gesehen, und man muß ihn stets hochachten, eben um dieser Erkenntnis willen. Ich möchte gern einmal wissen, was wohl Professor Deußen in Kiel zu diesem Priester der Weisheit sagt.
Es liegt also nicht etwa vor: Suchen der Gunst des Publikums. Es liegt aber wohl vor: Bewußtes oder unbewußtes Nachlassen der künstlerischen Kraft. Es ist schade, dass ein großer Erkenner uns einen großen Künstler kostet. Rechnet man dazu, dass sich heute alles, was sonst unterdrückt wird, unter dieses allumfassende Dach der Theosophie flüchtet, weil es sich in den unscharfen und verschwommenen Thesen wiedererkennt und bestätigt zu finden glaubt, so wird man die große Gefolgschaft dieser Bücher verstehen.
Es ist aber noch nie ein gutes Zeichen gewesen, wenn wertvolle Kräfte eines Landes sich diesen – stets falsch verstandenen – Mysterien hingeben. Dann stimmt etwas nicht.
Der Meister zaubert wirklich – stellungslose Kommis und gelangweilte Damen hören zu, freuen sich an den bunten Glaskugeln und sehen den Gott nicht. Der bleibt im Tempel und lächelt. Und so ist in Wahrheit keinem geholfen. Der Meister selbst hat kein Publikum, und das Parkett bestaunt, im Grunde genommen, Kulissen.
Der freigeistige Schmock schwenkt mit vollen Fahnen ins Lager dieser so poetischen Kirche. Hoffentlich ist sich Gustav Meyrink bewußt, dass der Applaus nicht ihm gilt. Wer ihn, den Künstler von 1910 und den tiefen Denker von heute, liebt, das sind nicht hundertvierzigtausend, nicht so viele. Es sind wenige und wertvolle. Aber die lieben ihn wirklich und von Herzen.
***
Quelle: Die Schaubühne, 15.02.1917, Nr. 7, S. 156.
Kurt Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik). Er verstand sich selbst als linker Demokrat und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. „Der niemals zu unterdrückende Drang, die Wahrheit zu sagen“, ist Tucholskys Motiv, und als er erleben muss, dass in Deutschland die Republik versinkt und ein umjubelter Diktator mit ausgestrecktem Arm an die Macht kommt, verstummt die mahnende Stimme Tucholskys im schwedischen Exil: „Man kann nicht schreiben, wo man nur noch verachtet.“