Der seit 1838 mitten in Amsterdam existierende königliche Tierpark Artis ist mit über 7000 Tieren ein beliebter Ausflugsort für In- und Ausländer geworden. In dem vorliegenden Roman handelt es sich um den Amsterdamer Privatzoo Artis, der sich dringend finanziell und infrastrukturell sanieren muss. Diese Aufgabe hat sich der neue Zoodirektor Edo Morell mit einem Masterplan gestellt. Er hat vor zwei Jahren sein Amt angetreten und versucht seine kühnen Umgestaltungspläne dem Verwaltungsrat des Zoologischen Gartens schmackhaft zu machen. Vorgestellt wird er in der Funktion eines Ich-Erzählers, der seine besonderen Qualitäten dem Leser anpreist. Er ist ein selbstbewusster, fachlich kompetenter und durchsetzungsfähiger Routinier, der sich in vier Bereichen besonders gut auskennt: der finanziell abgesicherten Umsetzung von Plänen, der vielseitigen Werbung für eine moderne und attraktive Tierpräsentation, im Management eines mittelgroßen Betriebs mit sehr gemischtem Personal und in der Bewertung des Sozialverhaltens der ihm anvertrauten Tiere. Diese Eigenschaften sind umso notwendiger, weil er vor allem seine Reformen gegen einen Verwaltungsbeirat mit einem mehrheitlichen Rentneranteil durchsetzen muss. In Frank Rida, Mitglied dieses Verwaltungsbeirats, einem betagten Kunsthistoriker, findet er einen weitsichtigen Unterstützer seiner ehrgeizigen Pläne. Sie beziehen sich auch auf die Vermehrung des schmalen Bestands an afrikanischen Nashörnern. Zu diesem Zweck engagiert er die südafrikanische Nashorn-Spezialistin Sahria Maran für die Aufzucht dieser immer seltener werdender Tierart, die vor allem in den Savannen Afrikas einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt ist: den Wilderern, die im Auftrag von mafiösen Geschäftsleuten die Hörner der Breit- und Spitznashörner von den toten Tierkörpern absägen, die Hörner so schnell wie möglich meist nach China oder Vietnam transportieren lassen, wo sie für Libibo stärkende Hormonpräparate verarbeitet werden.
Die narrative Struktur des Romans zeichnet sich durch geschickt gewählte Schachzüge aus, die dem Plot eine wachsende Spannung verleihen. In verschiedenen Rückblenden werden die drei wichtigsten Protagonisten nicht nur vorgestellt. Ihre Ich-Erzähler-Positionen vermittelt auch ein hohes Maß an Authentizität, das dem Leser die Möglichkeit einräumt, nicht nur deren jeweils eigene Wahrnehmung von der Zukunft des Tierparks zu erfassen, sondern auch eine wechselseitige Bewertung der beiden wesentlichen Handlungsträger, Edo und Sahria, vorzunehmen. Darüber hinaus fügt der Autor im Kapitel III die Aufzeichnungen eines Tonbandes in den Handlungsstrang ein. Es ist die Stimme des Vaters von Sahria, der kurz vor seinem Tod seine lebenslangen Begegnungen mit frei lebenden Tieren in einem 100.000 Hektar umfassenden Naturschutzpark, über die erste Begegnung mit seiner späteren Ehefrau, einer niederländischen Tierschützerin, und über die Brutalität der Wilderer, erzählt. Diese Aufzeichnungen, in denen der Vater auch über die Ermordung von Sahrias Ehemann durch eine Wilderer-Bande und die Verwundung seiner Tochter Sahrias bei diesem Überfall berichtet, dienen gleichsam als archetypisches Gegenmodell zur Tierwelt in einem Zoologischen Garten.
Und in diesem nach einem Masterplan umgestalteten Zoo Artis laufen sensationelle und tragische Ereignisse ab. Der Nashornbulle Albrecht schwebt zwecks Befruchtung von Ursula mit einem Hubschrauber aus dem Tierpark in Berlin kommend unter riesigem Presserummel ein. Wie spektakulär dieses Ereignis ist, verdeutlicht die folgende Passage. Albrecht, von seinen Fesseln befreit, erwacht, und ist noch halb betäubt von einem Narkosemittel: „Albrecht steht, sein Kopf wackelt. Kerzengerade steht er da wie ein Basaltblock, steifbeinig und mit verträumten Blick.“ (S. 102) Dieser stilistisch abgewogenen Darstellung der Landung im Zoo folgt Tage später die naturalistische Beschreibung des Befruchtungsaktes, in dem Albrecht seine auserwählte Nashorndame Ursula mit viel Mühe schwängert. Doch dann setzen dramatische Unglücksfälle ein. Wilderer erschießen Ursula in einer Regennacht auf dem Gelände des Tierparks und berauben sie ihrer Hörner. Die zweite Nashorndame Angela, die bereits von Albrecht geschwängert wurde, siecht an einer Gebärmutterzyste dahin. Das gesamte werbeträchtige Umgestaltungsprogramm von Artis ist damit in Gefahr. Sahria, eben noch in Edo verliebt, erkennt nun in ihrem Geliebten einen skrupellosen Tier-Manager, der selbst Albrecht auf eine gigantische zoologische Zirkusshow durch die Welt schicken will, um die schwindenden Einnahmen seines Tierbetriebs zu kompensieren. Das Desaster nimmt seinen Lauf. Während Sahria, wütend über die üblen Vermarktungsstrategien ihres einst bewunderten Liebhabers und Zoo-Direktors nach Südafrika zurückkehrt, inszeniert Edo seine große Show, auf der Albrecht mit großem Tamtam – selbst niederländische Regierungsmitglieder sind erschienen – auf die Reise in alle großen europäischen Tiergärten geschickt werden soll. Doch die Show platzt, weil eine Gruppe von Tierschützern dem Spektakel ein Ende bereiten will. Das sensationsgeile Publikum wird stattdessen mit einem Kinofilm über Nashörner abgelenkt.
Lodewijk van Oord, Jg. 1977, hat mit seinem lustigen und zugleich problembeladenen Roman einen weltweit brisanten Konflikt zwischen internationalen Tierschutzvereinen und Zoologischen Gärten aufgegriffen. Können artenbedrohte Tiere aus Afrika und Asien, wo sie von mafiösen Wilderern abgeschlachtet werden, in europäischen Tierparks überleben, in denen finanzträchtige Arterhaltungsprogramme zugleich von kapitalgesteuerten Strategien begleitet werden? Gibt es angesichts ihres drohenden Scheiterns dennoch Auswege?
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Das letzte Nashorn. Roman. von Lodewijk van Oord. Aus dem Niederländischen von Christian Burkhardt. München (Knaus) 2016