Noëmi versenkt das Röhrchen von Samenspender 2001 in flüssigem Stickstoff. Nachdem sich ihr Ex treu geblieben ist und mit einer jungen Krankenschwester in die Südsee entfloh, hat sie die Anteile an Wertpapieren übernommen und steuert den Global–Player allein.
Ihre Aktiengesellschaft Bio–Tissue Technologies steht für die Verheissung, dass der Einzelne nicht Gefangener seines Schicksals, sondern Gestalter seines Lebens ist. Spender 2001 hat einen weissen Plastikdeckel, eine wichtige Vorsichtsmassnahme ihres Unternehmens gegen den klassischen Betriebsunfall der Samenbank: Die Kundin hat für 158 Euro einen Kubikzentimeter Sperma eines weissen Spenders bestellt… und neun Monate später liegt ein eurasisches Baby im Kinderbett.
Noëmi Neumann wirbt mit Erfahrung, den strengsten Kontrollen und der grössten Sperma–Auswahl der Branche. Sperma ist zum Hauptartikel im Angebot der Bio–Tissue Technologies geworden. Noëmi verkauft 7000 Samenportionen pro Woche, bestellt und ausgewählt über’s Netz, verpackt in tragbaren Stickstofftanks. Ihr Unternehmen liefert in 42 Länder, innerhalb Europas als overnight mail auch über Nacht.
Medizin dient nicht mehr allein dazu, Krankheiten zu heilen, sondern Leiden zu verhindern. Der statistisch dokumentierte Untergang der traditionellen Ehe hat Noëmi neue Zielgruppen erschlossen. 71 % der Bestellungen bei der Bio–Tissue Technologies kommen von allein stehenden Frauen, die sich ein Kind leisten und einen Partner ersparen wollen. Bevor die kostbare Flüssigkeit ihrer Kandidaten auf ihre Samenbank kommt, werden alle Spender auf Aids, Hepatitis und Alkoholmissbrauch getestet. Die Qualitätsmerkmale der Lieferanten werden von der Hautfarbe bis hin zur Begabung katalogisiert. Im Stickstofftank ihres Unternehmens blickt Noëmi auf die multiethnische Gesellschaft der Samenspender: weisse Plastikhütchen stehen neben schwarzen, Gelb steht für asiatisch, Rot für Indianer, cremefarbene Plastikhütchen für Latinos oder unübersichtliche Fälle wie Nummer 043, der seine Herkunft mit „eurasisch, ungarisch, indianisch“ angibt. Auch dafür gibt es einen Markt. Manche ihrer Kundinnen möchten mischen. Abweichungen von der Norm – oder auch von der Moral – üben immer eine Faszination auf Noëmi aus. Etliche Familien benötigen einen speziellen Eingriff von ihr:
»Ein kleiner Einschnitt in den Hodensack und da sind sie: Spermien über Spermien, in bestem Zustand!«, stellt sie fest. In der Forschung ist sie durch die Technik der „postmortalen Sperma–Entnahme“ bekannt geworden. Sie eilt im Auftrag der trauernden Witwen und ihrer Angehörigen an das Totenbett und entnimmt der Leiche den Samen, damit sich die Witwe später damit künstlich befruchten lassen oder eine Leihmutter suchen kann. Nach der Neuausrichtung von Bio–Tissue Technologies kann man nicht nur das Sperma von Lebenden und Toten in flüssigem Stickstoff deponieren, sondern auch Stammzellen von Neugeborenen, entnommen aus dem Blut der Nabelschnur. Als Reproduktionsunternehmerin forscht Noëmi jedoch nicht nur an der Optimierung des Spermas. Sie befruchtet überzählige Eizellen von Spenderinnen mit Sperma von der Bank und gibt die Embryonen zur Adoption frei.
»Wenn nicht alles täuscht, lehren die genetischen Fragmente der Undeutlichkeit keine Ontologie der Geschichte, sondern Bescheidenheit und Skrupel. Mit dem Zuwachs an gentechnischem Wissen nimmt das Nichtwissen ungeheure Ausmasse an. Das Humangenomprojekt vergrössert die Unlesbarkeit der Welt und vermehrt ihre Dunkelheiten. Wer früher glaubte, er habe vom Leben eine Vorstellung, hat davon heute nicht einmal mehr eine Ahnung«, glaubt sich Noëmi inmitten einer schöpferischen Renaissance, einem erneuten Hervortreten der künstlerischen Seite der menschlichen Erfahrung. Sie überträgt die Prinzipien industrieller Produktion auf den Fortpflanzungsmarkt: die serienmässige Herstellung eines Luxusartikels für die Mittelschicht. Der Zeugungsvorgang im 21. Jahrhundert ähnelt dem Autokauf, bei dem man Ausstattung und Extrazubehör ordert und per Präimplantationsdiagnostik die genetische Veranlagung zum Tay–Sachs–Syndrom, zu Mukoviszidose oder zur Fettleibigkeit unterlassen kann. Noëmi sieht als neue Gene®ation von Hybriden Kinder mit fünf Elternteilen voraus: Samen und Eispender, Leihmutter und die Erziehungsberechtigten, allein stehende Frauen, heterosexuelle, schwule oder lesbische Paare mit Kindern, die auch als Normopathen aufwachsen wie ihre herkömmlich gezeugten Altersgenossen.
»Wie vielen unfruchtbaren Frauen könnte ich helfen, wenn es mir gelänge in einer genmanipulierten Maus Eier aus dem weiblichen Eierstock heranreifen zu lassen, die dann künstlich befruchtet und wieder in die Gebärmutter einsetzt werden?«, fragt sich die Forscherin und stellt Nachforschungen an. Als Körperhistorikerin beschäftigt sie sich auch theoretisch mit der Schwangerschaft. Das Objekt Embryo wurde 1799 erstmals auf einem Kupferstich mit einem Kommentar von Samuel Thomas Soemmerring aus Frankfurt sichtbar. Die Ärztin untersucht alle anatomischen Bücher, in denen seit dem 15. Jahrhundert der sezierte Unterleib schwangerer Frauen abgebildet wurde. Im Holzschnitt, im Kupferstich und in der Radierung wird wohl das Wort Embryo verwendet, aber wenn es gezeichnet wird, ist es ein Kind, das in der Mutter auf die Geburt wartet. Erst die Tafeln von Soemmering bringen einen Umbruch. Dem Betrachter erscheint ein Fötus, der nacheinander verschiedene Stadien durchläuft. Plötzlich verkörperte sich die Entwicklungslehre in der Frau. Die Naturkunde hatte den Fötus nicht sehen können, bevor sie ihn grafisch konstruierte.
Man weiss nie, wo die Grenzen liegen, solange man nicht an sie gestossen ist. Von alters her kannten Ärzte den Kontrast zwischen dem, was Frauen erlebten und was Gelehrte dachten. Frauen erwarten ein Kind, sie hoffen darauf, das Kind zu gebären. Der Keimling war kein Begriff im Horizont der Frauen. Wie die Frau zur Leibesfrucht kam, steht im Kern der Geschichte des Ungeborenen. Der Sinngehalt des Embryos im 21. Jahrhundert, die Frage nach seinen Rechten, hängt mit seiner Sichtbarmachung im frühestmöglichen Stadium zusammen. Die Ansicht, dass Schwangerschaft ein primär biologisches Ereignis ist und nicht eine von der Frau persönlich erlebte Geschichte, ist neu. Der Frauenleib wird zum öffentlichen Ort, der Fötus zur öffentlichen Sache und die Schwangere zum uterinen Umfeld für ein Leben, das durch die Interpretation der Ärztin im Ultraschall zum Emblem eines Kindes gemacht wird. Leiblich bedeutet, Noëmis Ansicht nach, dass Frauen mit einem Kind behaftet werden, ohne guter Hoffnung gewesen zu sein. Der moralische Konflikt zwischen der Frau und dem Embryo wird durch die Medikalisierung der Schwangerschaft erst hergestellt.
Noëmi steht mit ihrer Aktiengesellschaft Bio–Tissue Technologies an der Schwelle zur kommerziellen Eugenik. Unerwünschte Züge sollen weggezüchtet, erwünschte angezüchtet werden, um Merkmale eines Organismus zu verbessern. Die Biopolitik überlagert die auf Disziplinierung von Individuen gerichtete Souveränitätspolitik. In eine schwierige Situation kommt ihre Firma, als das oberste Gericht ihr das Recht, den Anspruch auf das geistige Eigentum an einem in der Frühphase seiner Entwicklung befindlichen individuellen Menschenleben verweigert. Der Richter begründet dies damit, dass der Mensch nach Abschaffung der Sklaverei nicht das kommerzielle Eigentum eines anderen sein könne. Als sie von der meinungsführenden Zeitung als Fortpflanzungszuhälter bezeichnet wird, zieht sie sich mit einer narzisstischen Kränkung aus der Öffentlichkeit zurück, um an ihrem persönlichen Projekt zu arbeiten, dem eigenen Baby.
Prima Primaten. Noëmi befreit Frauen vom letzten geschlechtsspezifischen Mythos, der Schwangerschaft als traditionellem Inbegriff, der Grundmetapher des noch nicht, der guten Hoffnung… es geht um einen entscheidenden Schritt weg von der conditio humana, um den Versuch, den Menschen abzuschaffen und an ihren Platz ein Wesen zu stellen, das die Kunst des Leidens und des Geniessens nicht mehr lernen muss. Personen, die Intelligenz, aber kein Bewusstsein haben. Die einzelne Frau wird verallgemeinert und zur konkreten Inkarnation der kalkulierbaren Wahrscheinlichkeiten in einer Population gemacht. Ihre gesamte Wahrnehmung und Selbstorientierung wird entkörpert. Der Bauch gehört der Frau, also kann sie ihn auch vermieten. Niemand kann Noëmi Neumann mehr weismachen, dass Mutterschaft und Gebären untrennbar miteinander verbunden sind. Sie engagiert ihre Schulfreundin Angelina. Per Vertrag verzichtet Angelina auf das Sorgerecht, jeglichen Kontakt mit genetischen Nachkommen und verpflichtet sich, während des Spendenzyklus nicht mit einem Mann zu schlafen. Konventionell wird Liebe durch Tragik verhindert.
Gentechnik stellt für Noëmi die ultimative Ausweitung der menschlichen Macht über den Lebensprozess selbst dar. Das Treffen von Entscheidungen darüber, welche Gene eingepflanzt, rekombiniert, oder getilgt werden sollen, um sich selbst und seine Nachkommen zu designen, ist eine Kunstfertigkeit. Mittäglich zwei Injektionen versetzt Noëmi ihre alte Freundin Angelina zuerst in eine künstliche Menopause, um ihre Zyklen zu synchronisieren. Hitzeanfälle und Stimmungseinbrüche während der Menopause halten sich in Grenzen.
Noëmi spritzt elf Tage lang Hormone, die Angelinas Eierstöcke superstimulieren und auf die Grösse von Pampelmusen anschwellen lassen. Am Schluss setzt sie eine letzte Injektion mit humanem Choriongonadotropin, um den Eisprung auszulösen. Die Ärztin sediert sie und entnimmt mit Hilfe einer Ultraschallsonde und einer Nadel 8 Eizellen. Nachdem sie die Spenderin für Aufwand und Unannehmlichkeiten entschädigt hat, begibt sie sich auf die Samenbank, um dort den Samen eines Spenders abzuheben, den ihres Mannes.
Selbstverständlich konnte auch Willibert Neumann nicht widerstehen, er wollte sich unsterblich machen. Sie zentrifugiert den Samen ihres Ex–Mannes mit MircoSort, nimmt eine sex selection vor, zieht die Y–Chromosomen heraus und optimiert die Keimzelle. Zum Menschsein gehört Menschwerdung. Nach der Fruchtwasseruntersuchung und dem genetischen Screening bittet sie ihren Ex um den letzten Gefallen: die Entbindung.
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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.