Die Bedeutung mündlicher Traditionen

Vorbemerkung der Redaktion: Seit 2000 wird jedes Jahr der Welttag der Poesie gefeiert. Er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“.

Was also wäre „Die ideale Lesung“ ?

„Wirklich herausragende Performerinnen und Performer, die der Lesung – wohlgemerkt unter Verzicht auf ein kompensatorisch kunstreligiöses Autoritätskonstrukt – neue Konturen geben und neue Facetten abgewinnen wollen, lässt die vorliegende Auswahl schmerzlich vermissen. Es fehlen reflektierte Stimmen der Vortragskunst wie Tom Bresemann, Ann Cotten, Crauss, Christian Filips, Mara Genschel, Jürg Halter, Thomas Havlik, Martina Hefter (und das Kollektiv «PIK7»), Maren Kames, Simone Kornappel, Norbert Lange, Michael Lentz, Zé do Rock, Valeri Scherstjanoi, Ulrike Almut Sandig, Walter Fabian Schmid, Julia Trompeter, Anja Utler, Andrascz Jaromir Weigoni, um nur die erzpoetischen unter den gewieft ideenreichen Impulsgeberinnen und Impulsgebern zu nennen, die die Dichterlesung intermedial wie interdisziplinär mit anderen Künsten in Verbindung bringen, ohne dabei Stimme oder Schrift jeweils als ein Primat zu konstruieren“, schrieb Konstantin Ames zum Buch „Die ideale Lesung“.

Sprechen ist immer zitieren.

Sophokles

Sprechen ist immer auch Rezitieren. Man hört auf Gedichte die Entschlossenheit zur Deklamationskunst. Deser Rezitator ist ein Lautschöpfer und Sprachbastler, er bringt die Buchstaben in eine neue Un-Ordnung und die Bedeutungen zum Schwirren. Es kobolzen Vokale ins Mikrophon, stets aufs Neue jongliert er mit Lettern, Silben, Wörtern und Sätzen. Seine Stimmbildung hat Weigoni als reine Physik verstanden, da wurden Muskeln trainiert – seine Stimmbänder – und es ging ihm um Physiologie und Raumakustik; er vergleicht die solcherart geschulte Stimme mit dem Resonanzkörper eines Instruments. Diese stilisierte Alltagssprache macht den Unterschied zum privaten Sprechen, in den Gedankenimpulsen, die sich den Zuhörer über die Prosodie vermitteln, also über Rhythmus, Melodie oder Sprechgeschwindigkeit, es ist ein Gedanken verdichtendes, zielgerichtetes Sprechen in normaler Sprache. Weigoni benutzt Wortspiele und ungewöhnliche Wortkombinationen, er verfremdet das Sprachmaterial, indem er phonetisch notiert oder einzelne Silben lautmalerisch wiederholt. Er stellt die Lyrik nicht lautlich aus, um schönes Sprechen geht es ihm dabei nicht. Um Verständlichkeit schon.

Als geformte Performance bezeichnete Thomas Kling das Hörbuch, hier trenne sich kurz und schmerzlos die Spreu vom Weizen. Deshalb solle den Mund halten, wer nicht ‘vorlesen’ kann, oder zu faul zum Üben ist.

Michael Opitz

Der Sprechsteller Weigoni hat beim Schreiben das Hören im Blick und beim Sprechen das Auge im Ohr. Der Modus des Sprechens wird zu einer Operation, die die Sprache als Werkzeug nutzt, seine Gedichte verlangen nach wachen Rezipienten und goutieren sie folgerichtig. Wir hören die Essenz, nicht den Effekt. Dieser VerDichter ist ein Meister der Wortschöpfung, der es versteht, die Phraseologie des Alltags subversiv aufzuladen, auf eine Art, die sprachwitzig ist, ohne sich auf die Pointen draufzusetzen, und umso betörender, je tiefer er sich in die irrwitzigsten Gedankenspiele hineinschraubt. Er läßt die Distanz zwischen Sprache und Gedanken schrumpfen, dass die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubt, dass sich die Unterschiede zwischen Gattungen aufheben. Seine ruhige Stimme verleiht dem Text eine bitter nötige, beiläufige Eleganz. Man kann ein Kompositum wie Dichterloh als Polyphonie hören, eine Art Wortkonzert, ein auf- und abschwellender Klagegesang über den Verlust des Individuums. Es geht um Stimmen, ein Spachspiel, das in einen Sprechspiel übergeht, ein Aus-Atmen, das zu einem Aus-Sprechen wird, das die Kulturgeschichte von Klang und Ton gleichsam mitatmet.

 

 

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Die ideale Lesung. Hrsg. von Klaus Siblewski und Hans-Josef Ortheil. Mainz (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung) 2017.

 

A.J. Weigoni, Photo: Thomas Suder

Weiterführend Eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.

Lesung als Transportmittel, ein Essay von Angelika Janz.

Hörproben Probehören kann man die Prægnarien auf MetaPhon. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni hier.

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