In den Reisereportagen, die Hans Christoph Buch im März 2016 im SWR-Kulturgespräch noch unter dem Titel „Sechs Fragen, das Eis zu brechen“ ankündigte, geht es um den Aufbruch in meist unbekannte Welten, den Durchbruch durch erstarrte Materie und die Durchreise durch unbekannte Kulturen. Aufgeteilt in drei Bücher, die jeweils mit Fragen nach der Identität, der Herkunft und nach der Zukunft eines erzählenden ICH eingeleitet werden, überrascht der Autor seine Leser mit einem Eingangszitat aus Jules Vernes „Eissphinx“. Es ist ein Ich, das einen Eisberg als Person wahrnimmt, die so etwas wie Verlust, ja Vergänglichkeit fühlt, je lichter dieser vereiste Berg wird. Das ruft Assoziationen an Science-Fiction, an fantastische Welten wach. Doch schon der folgende Vorspann lockt den Leser weg von dieser Spur, denn er wird zunächst Zeuge eines sachlichen Gesprächs über die Funktionsweise eines Eisbrechers und die zahlreichen Arten, wie Eisschollen zu brechen sind. Elf Arten von Eis gebe es in der Antarktis und ebenso viele Eissorten, sagt da ein Korvettenkapitän. Und ein gewisser General Leal, Nestor der argentinischen Antarktisforschung, behauptet sogar, dass es am Südpol „mollig warm“ sei, zumindest in den Wohncontainern in Scott Base. Ziemlich komisch, sagt sich da ein verwunderter Leser, wenn er nicht zwischendurch mit Anspielungen auf Franz Kafka (das Buch als Axt für das gefrorene Meer in uns) und Robert Musil (General Kühlmann-Stumm als Erforscher des Zivilverstands in Mann ohne Eigenschaften) besänftigt wird. Da weiß der so aufgeklärte Leser bereits, dass er nach den Erkenntnissen der Astrophysik die Krümmung des Universums unbedingt berücksichtigen muss, wenn er sich einen Durchblick durch die Reisereportagen von Christoph Buch verschaffen will.
Schon die erste Reise unter dem Titel Russland nackt ist sowohl für den Autor als auch für den Leser eine besondere Herausforderung. Eine Schriftsteller-Delegation aus der in den 1980er Jahren selbstständigen Einheit Westberlin, eingeladen vom Verband sowjetischer Schriftsteller, landet in Moskau. Dort wird sie von Genossen empfangen, die den Auftrag haben, der schreibenden Zunft aus der „Frontstadt Berlin“ die schönsten Seiten des Paradieses der Werktätigen zu zeigen. Ein Vorhaben, das auf der offiziellen Ebene mit Toast auf den Weltfrieden und das Wohl des Kommunismus, begleitet von edlen Speisen, Trinksprüchen und heftigem Wodkakonsum, so lange vorangetrieben wird, bis sich ein gewisser Überdruss einstellt. In diesem Fall stehen offiziell angestellte Schriftstellerwitwen oder auch halboffizielle Liebesdienerinnen zur Verfügung. Beide sorgen für Abwechslung im routinierten Alltag der eingeladenen Schriftsteller. Was nicht ausschließt, dass auch mal ein Reisepass zwecks behördlicher Kontrolle zeitweilig verschwindet, oder eine Schriftstellerwitwe nach einem nächtlichen Liebesabenteuer mit dem Autor sich auf rätselhafte Weise im Nebel auflöst. Und die Suche nach den inoffiziellen Stimmen im Paradies der Werktätigen? Obwohl diese Stimmen im Moskau der zweiten Hälfte der 1980er Jahre immer deutlicher zu hören waren, begnügt sich der Autor notgedrungen mit dem von Regime geduldeten, aber dennoch publizierenden Schriftsteller und Liedermacher Bulat Okudshawa, mit dem er sich in dessen Wohnung trifft.
Die Vorbereitung auf die kaukasische Reise, die unter dem Leitbegriff Kaukasische Nemesis steht, verbindet Christoph Buch mit einfühlsamen Beschreibungen eines aus Russland geflüchteten, vor einem Berliner Hotel bettelnden Tschetschenen und mit Erinnerungen an einen gewissen Scharputin, den er 1996 in Nowye Atagi, ein Dutzend Kilometer südlich von Grozny, auf einer tschetschenischen Hochzeit kennengelernt hatte. Angereichert werden diese Erfahrungsstränge mit Hinweisen auf die literarische Verarbeitung des Kaukasus-Traumas in den Werken solch berühmter russischer Schriftsteller wie Lermontow, Puschkin, Tolstoj. Beide Erfahrungsschichten, die persönliche Begegnung und die partielle Aneignung der fremden Sprachkultur (Buch bezeichnet seine russischen Sprachkenntnisse als leidlich gut!) verdichten sich zu einem bizarren Bild, an dessen Rändern die verfestigten Klischees sich allmählich auflösen und doch wieder erstarren, als der erwähnte Scharputin nochmal in Berlin auftaucht und sich vom verwunderten Autor einen Kredit für die Einrichtung eines tschetschenischen Restaurants in Berlin wünscht. Grund genug für Christoph Buch, um seine Reisen in dem noch weiter entfernten Kambodscha, in Myanmar und auf Haiti fortzusetzen. Der Inselstaat in der Karibik, so oft von schrecklichen Hurrikans heimgesucht, ist für Hans Christoph Buch mit besonderen Erlebnissen verbunden, denn ein Teil seiner Verwandtschaft hat hier entscheidende Lebensjahre verbracht. Der Titel der letzten Erzählung im ersten Buch bezieht darauf. DIE VERLOBUNG in PORT-AU-PRINCE ist eine dokumentarisch belegte Familiengeschichte, in der der Arier Willy Schlieker 1937 in Port-au-Prince die Tochter des dort ansässigen reichsdeutschen Apothekers Wilhelm Buch, dessen Ehefrau Mulattin ist, heiraten möchte. Die Deutsche Gesandtschaft auf Haiti lehnt seinen Heiratsantrag – auf Weisung des preußischen Ministeriums des Inneren – mit der Begründung ab, Jeanne Buch habe das Aussehen einer Mulattin. Und im Falle einer Heirat verstoße der Reichsdeutsche Schlieker gegen § 6 der ersten Verordnung zum Blutschutz-Gesetz. Es lohnt sich, an dieser Stelle die Reaktionen der in Haiti lebenden Familie Buch auf die Einmischung des NS-Staates in ihre persönlichen Angelegenheiten nachzulesen und im Hinblick auf die Sprachregelung der Nazis den Vergleich mit den Akten der Stasi, den Christoph anbietet, aufmerksam zu verfolgen. Das Ergebnis ist nicht nur ein Einblick in die nicht bewältigte deutsche Nachkriegsgeschichte, sondern auch die Einsicht, dass die Nazi-Diktatur im Hinblick auf den amtlichen Umgang mit dem Feind im Inneren in der Stasi ihre Fortsetzung gefunden hat.
Erst im dritten Buch greift der Autor das konkrete Thema seines Reisebuchs wieder auf. Die Lektion über die elf Arten, das Eis zu brechen, erteilt ihm die Besatzung des argentinischen Eisbrechers Almirante Irizar. Buch darf an Bord dieses Schiffes, das der Armada Argentina gehört, in die Antarktis fahren und erhält in seiner Funktion als Reiseschriftstellers einen überzeugenden Anschauungsunterricht – auch über den Klimawandel, die Antarktis-Forschungsarbeit eines DDR-Wissenschaftlers und die Technik, die beim Aufbrechen des Eises durch den Eisbrecher angewandt wird. Doch so spannend diese aufdeckenden Einsichten in die Meereskunde und in die Zukunft unseres Erdballs auch sind, das größte Abenteuer bleibt, so der Autor, die Aufdeckung der Geheimnisse, die von den Familien verborgen und verschwiegen werden. Und ein aufmerksamer Leser fragt sich nach der Lektüre des letzten Berichts Ultima Thule im dritten Buch, ob der Autor dort bei den Einwohnern im Norden Kanadas, den Inuits, die letzten fünf Arten, um das Eis zu brechen, erlernt hat. Eine Antwort darauf erhält er leider in diesem zwischen Abenteuerlust und Überlebensphilosophie pendelnden Reisebuch nicht. Wie schade!