Beuys, eine filmische Annäherung

Was sind die inneren Fragen der Leute?

Joseph Beuys

Der Film beginnt in Schwarzweiß mit einer Nahaufnahme von Beuys, der, im Sinne einer vierten Wand, zu einem nicht sichtbaren Publikum spricht. In seiner Ansprache reflektiert Beuys mit humorvollen Einwürfen über den erweiterten Kunstbegriff und welche Wirkung und Wichtigkeit Kunst für das Leben des einzelnen Menschen besitzt. Die Sequenz entstammt dem 1969 entstandenen 16-mm-Film 400 m IFF von Lutz Mommartz.

Neben Frühwerken und Zeichnungen sind unter anderem Ausschnitte der Aktionen Celtic+~~~ (1971), Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, I like America and America likes Me, das öö Programm, sowie die Installationen Honigpumpe am Arbeitsplatz, Das Rudel, Plight und Straßenbahnhaltestelle/Tramstop zu sehen. Außerdem werden bisher ungezeigte Farbfilmaufnahmen des Künstlers, beispielsweise im Guggenheim Museum oder während der Kunstaktion Salto Arte von Klaus Mettig aus dem Jahr 1975, in der Beuys ins Visier einer messerwerfenden Katharina Sieverding gerät, gezeigt. Des Weiteren werden Ausschnitte aus dem Fernseh-Disput Provokation Lebenselement der Gesellschaft – Zu Kunst und Antikunst zwischen Beuys, Max Bense, Max Bill und Arnold Gehlen vom 27. Januar 1970, sowie die Besetzung des Sekretariats der Kunstakademie Düsseldorf im Jahre 1972 oder Beuys’ Engagement im Rahmen seiner später scheiternden Kandidatur im Zuge der Gründung der Grünen gezeigt.

Der Boxkampf für direkte Demokratie durch Volksabstimmung vom 8. Oktober 1972 gegen Abraham David Christian wird in Ausschnitten dokumentiert.

Gegen Ende lässt der Film Joseph Beuys resümieren: „Jeder Mensch muss sich verschleißen. Wenn man noch gut ist, wenn man stirbt, ist das Verschwendung. Man muss lebendig zu Asche verbrennen, nicht erst im Tod.“ Die Hommage schließt mit seltenen Fotografien, die Beuys ohne seinen obligatorischen Hut zeigen, sowie Aufnahmen aus Venedig, wo er seine letzte Installation Palazzo Regale (im Film nicht gezeigt) realisierte. Zum Schluss wird die Anfangssequenz wieder aufgegriffen und Beuys wendet sich noch einmal an „sein“ Publikum, womit sich der dramaturgische Kreis der Künstler-Biografie schließt.

Die Dokumentation verzichtet weitgehend auf eine explizite biografische Abfolge, stattdessen beleuchtet sie unter Zuhilfenahme unveröffentlichten Archivmaterials die gesellschafts-ökologischen und politischen Aspekte des Künstlers, die anhand ausgewählter Werke, vornehmlich Installationen und Aktionen sowie Interviews mit Beuys, festgemacht werden. Stationen aus dem Leben des Künstlers werden kurz anhand privater Fotografien der Familie oder aus dem Atelier skizziert, humorvolle Szenen bringen indes den Menschen hinter dem mutmaßlichen „Mythos Beuys“ zum Vorschein. Aktuelle Interviews lassen die Weggefährten Franz Joseph van der Grinten, Klaus Staeck, Johannes Stüttgen, Rhea Thönges-Stringaris und Caroline Tisdall zu Wort kommen.

In der Dokumentation kommen vielfache filmische Gestaltungsmittel zum Einsatz, so wird beispielsweise eine Bewegtszene als Standbild „eingefroren“, während die Kamera auszoomt und einen Kontaktabzug erkennen lässt. Die Kamera wandert über die Einzelbilder, um in eine neue Filmszene einzuzoomen. So fungiert der leinwandfüllende Kontaktabzug mit seinen verschiedenen Bild- und Filmfenstern wiederholt als Split-Screen, aus dem sich der Fokus in ein einzelnes Detailbild verlagert, welches den Erzählfaden zur nächsten Episode lenkt.

An anderer Stelle wird mit dem Effekt eines sich entwickelnden Fotos gearbeitet: so zeichnet sich auf der weißen Leinwandfläche langsam das Bild der Installation zeige deine Wunde ab. Weitere Stilmittel des zumeist in schwarzweiß gehaltenen Films sind animierte Einzelbildaufnahmen (Aufbau der Installation The Pack (Das Rudel)) oder wie Karteikarten wegklappende Momentaufnahmen aus Beuys Leben, sowie Split-Screen-Montagen. Darüber hinaus werden die zahlreichen Fotografien collagenhaft in den Fluss einzelner Filmpassagen integriert, zu eigenständigen Sequenzen zusammengefügt oder zu Trickfilmsequenzen animiert. Oftmals gleitet die Kamera suchend über die Fotografien hinweg oder in sie hinein und hebt so die Grenze zwischen bewegtem Film und starrer Fotografie auf.

Auf einen Kommentator verzichtet der Film, stattdessen werden Tondokumente von Beuys aus dem Off verwendet.

 

 

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Beuys, ein Filmbiografie im Dokumentarstil über den Künstler Joseph Beuys von Andres Veiel. Kinostart im Mai 2017.

1976 trat Beuys als Kandidat für die nationalistische Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher an. Der Regisseur Andres Veiel sieht in Beuys‘ Zusammenarbeit mit einem ehemaligen SS-Mitglied und seinen Abenden mit alten Kriegskameraden eine ‚Transformierung der Katastrophe‘ und eine ‚Möglichkeit, sich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien.‘ Wie Beuys hier den Begriff vom „schaffenden Volk“ benutzt, zeigt welch geistes Kind er ist. Ging Beuys also zu Kameradschaftsabenden seiner Luftwaffeneinheit, wo er sich lachend mit ihnen fotografieren ließ, nur, weil er sie zu aufrechten Demokraten bekehren wollte?

Weiterführend →

Joseph Beuys hat den Kunstbegriff erweitert. Auch der Literaturbegriff gehört erweitert. Bestand die Modernität des Aphorismus bisher in der Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur.

→ ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.