Dichte Lohe • Revisited

Vorbemerkung: Im Rahmen der Publikation des lyrischen Gesamtwerks des Sprechstellers A.J. Weigoni blickt Ulrich Bergmann auf den Mittelteil der Trilogie Letternmusik, Schmauchspuren – eine Todeslitanei, Dichterloh – Kompositum in vier Akten zurück:

Lieber Weigoni, werter Champion der Twitteratur, ich habe Ihr Kompositum in vier Akten gelesen, mich durchgeflœzt durch die schwierigen Wœrter des Gedichtbands DICHTERLOH, wie es meinem Namen geziemt, und gleich beim hors d’œvre Filetstuecke zu Tage gefœrdert: Schon das Motto von Orson Welles gefællt mir – wehtuende und befreiende Wahrheit.

We’re born alone, we live alone, we die alone.
Only through our love and friendship can we create
the illusion for the moment that
we’re not alone.

Orson Welles

Das „Start-Up“ (p. 7) verspricht viel, und mehr als das wird eingehalten. Ein subversiges Spezialdiktionær mæandriert von Gedicht zu Gedicht, immer komplexer werdend, imaginære Realitæt wird generiert. Ja, in der Tat, schon die Gegenwart ist ewig, unendlich unsere optionale Entitæt, deflationær nach innen justiert, nach außen eine mitœse REvolution, und die „Magie des Erhabenen | gefangen im Regelwerk der Syntax“ universalisiert sich in der tausendfæltigen Reflexivoptionalisierung und gewinnt den Kopf des Rezipienten für die Idee der Freiheit. Der Leser ueberwindet die babylonische Gefangenschaft der Wœrter, und das ganz ohne Hegel. „Leerstelle“ (p. 13) ist ein weiteres Amuse-Gueule, das mir Appetit auf das perpetuum nobile dieser Poesie machte. „der sirenenhafte Ton | verkuendet eine ferne | Utopie“ – das ist die Leerstelle, das Nirgendwo der Utopie, die Variable, die wir ausfuellen mit der Dichtung, die immerhin einem mathematischen Limes æhnelt, die Werte an der Grenze evozierend. Der digitale Tanz kann beginnen.

Werter Weigoni, Sie twittern in die Tastatur, was das Zeug hælt. Und genau das macht Literatur aus, die aus der gemeinen Twittrigkeit herauswæchst wie eine zarte Blume unter dem Schnee, bis sie die Kælte des Nichts durchbricht und aufblueht in den Ganglien des homo legens, wo das Gemeine im Besonderen aufgehoben wird. Angebunden an den Mast unseres Lebensschiffs, und Twitterwachs in den Ohren, spinxen wir vorsichtig durch unsere Augenlider zu jener Insel, die wir auf der Suche nach der Liebe verloren, denn wir wissen: wir sind condamnés à être libres in einem extrauterinen curriculum vitæ. Wer mehr darueber erfahren will, lese Manfred Ostens wunderbaren Beitrag „Das glueckliche Ohr – ein Gespræch über Musik mit Peter Sloterdijk“ (Sinn und Form, Heft 6/2013, p. 864-877): Dort wird unterschieden zwischen dem ræsonierenden und resonierenden lyrischen Ich. Des Autors personales Ich, so wird gerade bei Weigoni deutlich, ist nur eine kleine Teilmenge des Lyrischen Ichs – anders gesagt: Das Lyrische Ich kann kaum heruntergebrochen werden auf das Autor-Ich. Tatsächlich gewinnt des Autors personales Ich die Qualitæt des Allgemeinen. Bei Manfred Osten liest man:

Wenn einer sagt, ich denke, also bin ich, muss doch irgendwo in ihm eine Instanz sein, die diesen Satz artikuliert. Diese innere Fluesterstimme muss man sich wie eine sonore Glasscheibe vorstellen, durch die der Denker hindurchdenkt oder hindurchhœrt, ohne sich selbst reden zu hœren. Schon das Sich-selber-reden-Hœren wäre ein großer Fortschritt, weil man dann endlich begreifen wuerde, dass das Denken ohne ein solches inneres Artikulieren nicht zu haben ist.

(Sinn und Form, p. 872)

Genug davon. Weigoni hœrt jedes Wort mit, das er schreibt. Aber auch er weiß nicht, was er gesagt hat, bevor er nicht die Antwort des Lesers darauf gehœrt hat. Wenn es in Weigonis „Buchstabensuppe“ (p. 14) heißt: „… die Verantwortung dafuer uebernehmen & | die Suppe auslœffeln“, meint er also nicht nur sich selbst, sondern auch den Leser. (Sein humoresker Hinweis unter dem Gedicht auf Russisch Brot læsst den Interpreten allein, aber das zeigt nur das Geworfensein des Lesers in die Freiheit der, wenn man so sagen will, universalen Suppe, die sich ja selber nicht auslœffelt, sondern gleichsam die Liquidierung oder, besser gesagt, Verfluessigung des Sisyphos-Steins darstellt; sie fließt nicht den Berg wieder hinauf, sie ist immer da und wird genæhrt von den vielen Suppen, die immer wieder ins Irdische hinab regnen.) Wir sehen: Hinter Weigonis Poesie stecken gleichermaßen Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung. Und viel Humor zuweilen. Kaum ein Gedicht zeigt dies deutlicher als „Æzesupp mit Ferkesfœss – eine Ode an die rheinische Kueche“, wo vom rheinischen Sauerbraten die Rede ist, von Kœlsch, Himmel & Æhd, und wo das lyrische Ich (s. o) zum Schluss ausruft: „O ihr sprachlosen rheinischen Kœche, ihr kocht es | damit ist alles gesagt & die Grundlage fuer | ein erfolgreiches Besæufnis | ohne grossen Salzverlust gelegt“.

In „Caput III – Verlodern“ (gemeint ist auch: Verloddern) spricht der Dichter nur vordergruendig die „RECHT/SCHREIB\REFORM“ an. In dieser Vordergruendigkeit wuerden Sprache und Denken tatsæchlich verloddern, verlodern oder verbrennen. Die dem Titel folgenden 7 Doppelverse zeigen, dass Norm und Richtigkeit einer Sprache nicht genuegen; „Dinge existieren unabhængig | von ihrer Benennung || Begriffe kleben nicht etikettengleich | an den Dingen || ohne Metaphern kœnnen wir sie nicht sehen & | muessen in den Bauplænen der Syntax | Bedingungen des Denkens suchen um | aus grœsster Strenge zur | hœchsten Freiheit zu gelangen …“ Dieses Credo ist auch meins, und bei solchen Gedichten versagt auch die Kraft meiner parodierenden Annäherung an Weigonis Lyrik. Nicht wenige Gedichte in DICHTERLOH sind metapoetische Texte, Reflexionen über Lyrik, teils versteckt in metaphorischen Kulissen, teils in praktischen Beispielen vorgeführt. In der Fremdwortglut lodert auch Klang auf, es entsteht eine Art Catalogue d’Oiseaux der Twitteratur. Es kommt zu Wort-Turmbauten, deren Statik und Materialitæt mich an Luftschlœsser erinnert, an utopische Zustænde, die wir træumen müssen, die wir nur træumen kœnnen, um zu existieren.

Am Schluss (in „Caput Morbidezza“) steht denn auch das vielleicht schœnste Gedicht des Bandes: THINK & LINK. Es beginnt mit den Worten: „weiter | hin im Schwebe | zustand bleiben: || & wære es nicht ein Traum | zu sehen | ohne noch wahrnehmen zu muessen? || & so unmittelbar in | das Eigentliche eindringen | zu kœnnen? || … wære es ein Traum | wahrlich, wir sollten ihn træumen | mit unbedingter Ausschließlichkeit …“ (p. 106)

reload – rethinking

Inzwischen erscheint Dichterloh in einer Werkausgabe, die das lyrische Gesamtwerk enthælt: Der Schuber – 5 Buecher mit rund 500 Seiten und einem Hœrbuch mit his master’s voice in einer DVD-Huelle, auf der Weigoni Duerers beruehmtes Selbstbildnis aktualisiert: Weigoni als sækularisierte Christus-Gestalt, als Dichter-Gott einer Pentalogie mit den Leidmotiven unserer Zeit und allen Ungewissheiten eines lyrischen Ichs, das sich selbst zu finden sucht – ein Sisyphos-Phœnix, der immer wieder aus der Asche seiner Verse auferstehend sich gebiert in neuen Versen, die die alten mit anderen Mitteln fortsetzen. Weigoni schlægt immer deutlicher den Weg zu einem Gesamtkunstwerk unserer Zeit ein. Er gibt den Glauben an ein Ganzes, an Sinnmœglichkeit und Seinsgestaltung nicht auf. Er bietet dem Unfug der Macht und der Verführung durch die Luege, die sich mit immer schœneren Namen kleidet, die Stirn des differenzierenden Worts.

 

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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim 2017

Die fünf Gedichtbände erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine handwerkliche Drucktechnik, er hat sie auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von A.J. Weigoni gestanzt hat. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind „Gebrauchsspuren“ geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover direkt nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken.

Alle Exemplare sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.

Weiterführend → Mehr zur handwerklichen Verfertigung auf vordenker. Eine Würdigung des Lyrik-Schubers von A.J. Weigoni durch Jo Weiß findet sich auf kultura-extra. Margeratha Schnarhelt ergründelt auf fixpoetry die sinnfällige Werkausgabe. Lesen Sie auch Jens Pacholskys Interview: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters. Einen Artikel über das akutische Œuvre,  mit den Hörspielbearbeitungen der Monodramen durch den Komponisten Tom Täger – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.

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