Eingriff, sternklar

 

Im zweiundzwanzigsten Jahr nach der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbandes sei hier noch einmal an diesen Ausnahmedichter erinnert: 2014 erschien das letzte Werk des 1949 in Luxemburg geborenen Wortakrobaten Jean Krier, der bis 2010 als Gymnasiallehrer für Deutsch am Lycée de Garçons in Luxemburg tätig war und bereits 1995, nach zahlreichen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, sein erstes Buch mit Gedichten Bretonische Inseln in der Edition Landpresse (Verlag Ralf Liebe) publizierte: Eingriff, sternklar – ein Konvolut aus mehr als 60 Gedichten sowie deren Entstehungs- und Entwicklungsvarianten aus Kriers Nachlass.

Der Literaturkritiker Michael Braun, der zuletzt mit seinem 2011 erschienen Buch Hugo Ball: Der magische Bischof der Avantgarde – zusammen mit den Autoren Urs Allemann und Ernst Teubner – eine aufschlussreiche diskursive Studie über den Deutschen Mitbegründer der Dada-Bewegung vorlegte, hat Kriers Nachlass in enger Kooperation mit der Witwe des Dichters Elfi Krier-Clauß aufbereitet; ein Erbe, das sich hauptsächlich während der Arbeit an einer weiteren für 2014 als Nachfolgeband von Herzens Lust Spiele zur Veröffentlichung im Verlag Poetenladen vorgesehenen Gedichtsammlung summierte, über deren Fertigstellung der Autor nach langjähriger schwerer Krankheit im Januar 2013 in Freiburg im Breisgau verstarb. Die eingangs erwähnte Schlüsselfigur der Dada-Bewegung in Deutschland und in der Schweiz, Hugo Ball, schrieb in seinem Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich vom 14. Juli 1916: »Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die Sprache zu verzichten.«

Nichts wird uns ferner liegen, als Jean Krier auch nur in die Nähe eines Zusammenhangs mit Dada zu rücken – im Gegenteil: Dada will die Sprache ihres Sinnes entleeren und Laute werden zu rhythmischen Klangbildern zusammengefügt. Dahinter steht die Absicht, auf eine Sprache zu verzichten, die nach Ansicht der Dadaisten in der Gegenwart missbraucht und pervertiert ist. Und was macht Krier? Gerade er ist ja einer dieser Sprachpervertierer. Er ist die Inkarnation eines intertextuellen Lumpensammlers und Recyclers, der allerdings zu grausam schönen Ergebnissen gelangt; er desintegriert Gewohntes und Gewöhnliches und strickt daraus Einzigartiges und Ungewöhnliches. Perversion mit besten Absichten. Ein Sinngeber also gleichermaßen. Krier ist auch ein Spracherfinder. Und es gibt, den zahlreichen mit Konventionen brechenden surrealistischen Konstruktionsformen zum Trotz, einen durchgängigen Stil, die für Krier typische Verformung und Entstellung der Sprache nach seinem Willen, die unvollständigen Sätze, Weglassungen von Verben, da ist dieses immerwährende u anstelle des Wortes und (nur in der letzten Strophe der Ode Ah, quel bonheur und in einigen Varianten ist es ausgeschrieben), sowie häufig wiederkehrende Motive beziehungsweise zentrale Begriffe: Schatten, Meer, Baum, Katze, Blut, Herz, Wolke. Globalmetaphern, wie der Deutsch-Amerikanische Schriftsteller Paul-Henri Campbell feststellte.

Und immer wieder Auslassung, Sprünge, Zerstückelung und Entgliederung von Gedankenketten als Stilelement oder als Begrenzung auf elementare Aussagen; oder ist das seine ganz eigene Form der Zäsur, semantisch selbständige Denkansätze zurücklassend, Kriersche Kola, die der Leser aufnehmen und weiterdenken kann? Zitatfetzen von Beckett, Hölderlin, Enzensberger, Goethe, Novalis, Verlaine und vielen anderen werden durcheinander geschüttelt und eingestreut, vor der Bibel und gar vor Werbeslogans macht Krier nicht halt. Sprach-Gewalt. So wie Gewalt in Bildern uns über Bedrohungen und Verlust in der Wirklichkeit nachdenken läßt, verfügt Kriers Poesie über eine morbide Anziehungskraft: wir schauen gebannt hin, wenn die Bilder extrem sind. In Kriers Gedichten zoomen wir auf die Texte, wenn uns die abgetrennten Satzstummel um die Ohren fliegen, die zerhackten Gedankengänge und die durch den Fleischwolf unserer Verletzlichkeit gejagten Erinnerungen über Lachen des Blutes einer Melancholie aus Lebens-Lust und -Verlust unerwartet zu neuen Texturen verknüpft werden und unglaubliche Wendungen nehmen.

Herzens Lust Spiele wurde im Jahr 2011 zweimal mit Preisen bedacht: mit dem Prix Servais, einem Literaturpreis, der durch die Fondation Servais für das bedeutendste veröffentlichte Werk in Luxemburg des Jahres verliehen wird, sowie mit dem von der Robert-Bosch-Stiftung vergebenen Adelbert-von-Chamisso-Preis. Die Robert-Bosch-Stiftung ließ in der Begründung zur Ehrung verlauten: »Seine deutschsprachigen Wortteppiche, die er subtil mit französischen Einsprengseln spickt, speisen sich aus Erfahrungsmomenten und Lektüreerlebnissen«. Verknüpfungen. Teppiche, die später, wie in seinem Nachlass deutlich wird, manches Mal sehr rau sind, immer grober wurden mit fortschreitender Zuspitzung seiner Krankheit.

Dada stellte Kunst in Frage – Krier stellt den Tod in Frage und gleichzeitig das Leben. Collage und Persiflage ergeben ebenso sozialkritische Momente wie scharfe Blasphemien, wobei durchgängig dieses fast schon verschmitzte Lächeln Kriers durch die Wörter scheint; ein ironisches Augenzwinkern, ein abgründiger, man möchte beinahe sagen beißender Humor – und das sogar angesichts des Wissens um Beschränktheit und Vergänglichkeit, wie es nur Todkranke verinnerlichen und wirklich verstehen können. Es ist ein Aufbegehren, wir erkennen wie einen roten Faden im vorliegenden Buch: der Dichter ist sich seiner Bedrohung bewusst. Noch lebend des Todes sein, dies war über einen langen Zeitraum Kriers Situation. Des Todes sind wir alle und  dieses verallgemeinerte Wissen über eine doch unfassbare, immer irgendwie nebulös bleibende und in den Kulturen meist verdrängte Gewissheit ist nicht Gegenstand Kriers Lyrik; es geht um die persönliche Akzeptanz der Todesgewissheit, um ein Leben mit Krankheit, das in einem absehbaren Zeitraum bereits verloren scheint. Ironie und Achtung vor der Gratwanderung des Lebens inmitten und über all dessen Unwägbarkeiten, dessen Fragilität und Endlichkeit, fügt Jean Krier zu einem sarkastischen, irgendwann milderen, verstehenden und schlussendlich doch duldenden Ganzen. Wir haben keine Wahl.

Vieles ist bereits geschrieben worden über Eingriff, sternklar, auch zur äußeren Gestalt des Buches – auf dem Cover ist eine verfremdete Ultraschallaufnahme des Herzens des Dichters zu sehen (wie schon auf dem Band Herzens Lust Spiele), eine Gestaltung, die zu Spekulationen führte: Anspielung auf Thomas Manns Hans Castorp und die Röntgenaufnahme der Madame Chauchat? – Kontextualisierung der schwerwiegenden Erkrankung Kriers? Wobei Letzteres offensichtlich ist. Wichtig wäre hierbei zu wissen, wer hinter dem Buchdesign steckt, in wie weit Jean Krier an der Buchgestaltung beteiligt war. In manchen Arbeiten über Eingriff, sternklar liest man bedauerlicherweise die Einschätzung, hier habe einmal mehr einer sein Leben in einem literarischen, lyrischen Kontext verarbeitet, seine Illusionen und Desillusionen, Erwartungen, Ängste, hier schreibe also einer »nur« über sich und mindere somit den literarischen Wert der Arbeit. Aber so einfach ist für Krier die Sache nicht. Selbstreferenziell sind seine Gedichte nur insofern sie uns einen Teil der Gedankenwelt des Dichters erlesen lassen, posthum. Schreibend verarbeitete Krier seine Bedrohung durch den Tod: »Denn noch ein Tag wird abgerungen vom Schlund des Leviathans«. Vielleicht war es so, zum Ende hin. Beim Lesen in Eingriff, sternklar wird es evident: »letzte Worte, die bleiben stecken im Hals«. Die Technik, mit der seine Gedichte entstanden sind, könnte man Poetik der Endlichkeit nennen, oder sogar »Revolte der Endlichkeit«, wie Paul-Henri Campbell seine Arbeit über Eingriff, sternklar aus dem Jahr 2014 betitelte.

Krier lesen ist eine ernste Angelegenheit. Auch wenn er den Tod stellenweise gleichsam parodiert, bleibt das Phänomen der Endlichkeit ein bedrückender Schleier, der sich über den trotzigen Witz und die Originalität eines Jean Krier legt. Naturbetrachtungen bieten keinen Trost, keine Versöhnung, Bäume sind ebenso vergänglich wie wir und sogar Katzen sterben spätestens nach neun Leben. Sogar der Himmel ist endlich und nicht unsterblich, wenn wir den Erkenntnissen der Wissenschaft glauben schenken. Doch bei aller Schwärze sind noch Utopien drin und etliche Male karikiert Krier mit seinem sperrigen Wortwitz bis in die Geschmacklosigkeit hinein und wagt sich hart an die Grenze zur Lächerlichkeit: »Schluss nun mit Vögeln« als Ende eines erotischen Gedichts deutet die Bodenständigkeit und den illusionslosen Realitätssinn des Dichters an. Die Antizipation des Sterbens gibt jeder Witzelei einen bitteren Beigeschmack. Wiederholungen finden sich überall, nur ein Beispiel: in der Ode an die Freude lesen wir »Und vergessen Nacht, / die immer ist u überall in / Himmel u Erde die Freuden Feuer / u toben Welt u Meer u springen.« In Ich freu mich schon auch dann »Wie aber vergessen, dass Nacht immer / ist u überall Freudenfeuer im Himmel u auf Erden, tobend Welt Meere u springen, Bomben Stimmung, wie besoffen, […]«. Aber dieses mehrmalige Auftreten einiger Motive muss man als bewusst gesetzte Repliken verstehen. Jean Krier ist auch ein Spieler mit Variationen und Emotionen.

Krier lesen ist mehr als eine ernste Angelegenheit: Ein rendez-vous mit aufrüttelnder Lyrik unserer Epoche, Lyrik mit Präzision, Tiefgang, und sprachlicher Expressivität die selten geworden sind, Lyrik die ästhetische Erfahrung ermöglicht und die jeden Leser, früher oder später, sich selbst beleuchten lässt, ihm existentielle Überlegungen implantiert: zum Beispiel ob der Tod stärker als die Dichtung sei oder die Dichtung stärker als der Tod? Bin ich stärker als der Tod? Kriers Fragen werden unsere Fragen; seine Revolte der Endlichkeit wird unsere Revolte. Auf abstrakte Weise war Kriers Revolte für ihn erfolgreich: er schrieb sich ein in die metaphysische Unsterblichkeit. Wird seinen Tod überleben, in seiner Lyrik. Dem Tod in seine rätselhafte Grimasse geblickt hat er und die Zunge herausgestreckt und zu sich selbst gesagt: »Zitter also u stirb. Feier fröhliche Urständ am nächsten Morgen«

Als Résumé, weil es annähernd so poetisch ist wie die Wortgeschöpfe Jean Kriers und weil es über Eingriff, sternklar eine Kernaussage auf den Punkt bringt, sei noch einmal Paul-Henri Campbell zitiert: »Endlichkeit, das ist das Murmeln und Raunen, gegen das unverschämte Schweigen der Ewigkeit«. Und: »Unbedingt lesen«.

 

 

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Eingriff, sternklar / Gedichte aus dem Nachlass von Jean Krier, Poetenladen 2014

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.