Vom Soziologen Max Weber stammt das Diktum, dass wir in prophetenlosen Zeiten lebten. Nahezu einhundert Jahre nach dieser Beschreibung der modernen Welt scheint die Beobachtung wieder überholt. Unter dem Eindruck von bereits erfolgten oder nahe bevorstehenden Durchbrüchen in den Biowissenschaften und den Erfolgen der Technologiekonzerne des Silicon Valleys erleben wir gegenwärtig eine Rückkehr eines scheinbar längst ausgestorbenen Berufstandes und staunen gleichsam über das Wirken einer Prophetengeneration 2.0. Für die Wiederkehr dieses modernisierten Berufszweiges standen in den vergangen Jahren Namen von Transhumanisten wie Ray Kurzweil und Nick Bostrom, die teils mit weitreichenden Vorhersagen über das begonnene Computerzeitalter, teils mit spektakulären Warnungen vor einer Auslöschung der Gattung Homo sapiens durch von uns selbst geschaffene überlegende künstliche Intelligenz für Furore zu sorgen wussten.
Im vorliegenden Fall ist es der in Jerusalem lehrende israelische Historiker Yuval Harari, der in seinem Buch Homo deus die sozialen und politischen Konsequenzen aus diesen Entwicklungen diskutiert und dem es hierzulande gelungen ist, eine breite Öffentlichkeit auf seine Thesen aufmerksam zu machen. Während in den vergangenen Jahrzehnten die deutsche Historikerzunft immer mehr den Eindruck erweckte, sich nur noch in den akademischen Elfenbeinturm fachgeschichtlicher Spezialisierung verbarrikadiert zu haben und so in der politischen Öffentlichkeit rapide an Aufmerksamkeit und an Einfluss verloren hatte, ist es bei den Vertretern der Propheten 2.0 genau umgekehrt: Es sind bei Yuval Harari die ganz großen Fragen der Zukunft der Menschheit, denen er sich in seinem 575 Seiten umfassenden Werk annimmt. Im Mittelpunkt stehen Überlegungen wie: Sind wir auf dem besten Wege, mit Hilfe der Technik den Homo sapiens abzuschaffen und uns gleichsam zu einem Homo deus upzugraden? Welche Folgen würde dies generell für die westlichen Gesellschaften haben und speziell für diejenigen, die sich ein derartiges Upgrade nicht leisten wollten oder könnten?
So aufsehenerregend Hararis Hypothesen auf den ersten Anschein wirken, so wenig neu ist seine Prämisse. „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen“, beschrieb schon vor über siebzig Jahren Sigmund Freud den Stand des rasanten technischen Fortschritts und analysierte aus psychologischer Sicht das Unbehagen in der Kultur, das sich schon in der Epoche unserer Großväter ergab. Welche unerhört neuen Volten dieser Fortschritt im 21. Jahrhundert zu schlagen in der Lage ist, fasst Harari in seinem Buch sehr anschaulich und pointiert zusammen. Auf den ersten Blick möchte man als sich Leser manchmal fragen, ob der Autor nicht auch mal etwas kleinere Münze hat. Jedoch steht das Buch bewusst in der Schule der Big-History-Geschichtsschreibung, die sich auf den neuesten Erkenntnissen der Bio- und Naturwissenschaften beziehend den großen Entwicklungslinien der Menschheit angenommen hat, und dabei, wie etwa die Arbeiten von Jared Diamond zeigen, zu relevanten Aussagen und wertvollen Ergebnissen für unsere heutige Zeit gekommen ist. Mit der Etablierung von Big History an Universitäten der englischsprachigen Welt als neuer interdisziplinärer Forschungsrichtung nimmt die Geschichtswissenschaft eine Entwicklung wie sie zuvor die Wirtschaftswissenschaft schon vor längerer Zeit angetreten hat und zur Ausprägung von Mikro- und Makroforschungsrichtungen führte. Gleiches erleben wir gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft, wobei sich offenbar die deutschen Fachvertreter gänzlich auf die Seite der häufig selbst referenziellen Mikrohistoriker geschlagen haben. Es bleibt abzuwarten, ob es ihnen gelingen wird den eingeleiteten Prozess der Verzwergung ihrer wissenschaftlichen Zunft aufzuhalten und den Ruf der „Historikern in kurzen Hosen“ (Michel Foucault) wieder los zu werden. Trotz dieser internationalen Entwicklungen ist es aber immer noch selten, dass sich Historiker für Ereignisse in der Zukunft zuständig fühlen. Noch seltener ist es, dass dies auf einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Grundlage geschieht, und das in einer Weise der Darstellung, die nicht nur sehr unterhaltsam zu lesen ist, sondern auch intellektuell ungewöhnlich anregend wirkt.
Mit Homo deus hat Yuval Harari ein einflussreiches Werk geschrieben. Es ist zu erwarten, dass es ebenso wie sein Vorgängerwerk Eine kurze Geschichte der Menschheit auf den Schreibtischen (oder vielmehr den Bettkonsolen) der Politiker gelangen wird, wo es bereits den US-Präsidenten Barack Obama nicht unbeeindruckt gelassen hat. Wenn Geisteswissenschaft hierzulande öfter auf einem lehrreichen und zugleich unterhaltsamen Wege öffentlich wirken könnte, hätte sie sicherlich weniger Legitimationsprobleme in der öffentlichen Wahrnehmung und könnte zudem einen dringend benötigten Beitrag in der Politikberatung leisten. Dabei bleibt es letzten Endes auch unberührt, ob die mitunter recht überspannt wirkenden Prophezeiungen des neuen Generation Propheten 2.0 in der Realität tatsächlich eintreffen oder doch eher vielfach Science Fiction in Wissenschaftsprosa bleiben werden. Worauf es viel mehr ankommt ist, dass sich eine breite Öffentlichkeit der in der Tat erstaunlichen neuen Möglichkeiten der wissenschaftlichen Forschung und ihrer technischen Umsetzbarkeit bewusst wird und die entsprechenden Optionen in einem Ergebnis offenen Diskurs abgewogen werden. Zu Recht hebt Harari dabei in seinem Buch immer wieder auf die Nichtzwangsläufigkeit aller dieser Entwicklungen hervor, die uns in den kommenden Jahrzehnten bevorstehen könnten und deren Folgen jetzt von möglich vielen bedacht und diskutiert werden sollten. Die Positionierung von Homo deus in den internationalen Bestsellerlisten zeigt das Bedürfnis danach. In diesem Sinne ist Harari mit seinem Think Big ein weiterer Wurf gelungen.
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Eine Geschichte von Morgen, von Yuval Noah Harari Homo Deus. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn München (Ch.Beck-Verlag) 2017