DER FIEDELRUSSE

 

Der russe sieht seinem großvater ähnlich

ein mädchennasiger hüne  fähnrich

Die hand zieht den umriß von dessen konturen

die zunge formt worte auf dessen spuren

 

Er rettet die bücher  die edelholzstühle

er rettet vor allem die alten gefühle

Er ist auf dem eismarsch durch fauchende steppen

hat stadthaus und hauptstadt samt hausrat zu schleppen

 

Der fiedelrusse spielt ab seine phrasen

das band hat durch hunderte ohren geblasen

So geigt er sich aus dem schlamassel ins freie

der hohlwelt und preßt zu marienglas die schreie

 

Vertut euch nicht  miete in Moskau zieht er

nur hier in Berlin vergeigt er die mieter

nüscht anständjet fressen und haschischesser

aber japanischen schleifstein fürs messer

 

Er riecht kommissare auf anderthalb meilen

Man braucht sich mit schulden nicht mehr zu beeilen

Auch liest er Nabokow  Berlin ignoriert ihn

ne falsche betonung melancholisiert ihn

 

Die Rotsoldateska ‚t Ewropa gefressen

sozialrevoluzzer dinieren indessen

ER hütet die vorkriegs (I!) schreibmaschine

sie sei es die einzig der wahrheit noch diene

 

O Fiedelrusse  du hungerschnitter

zu schwer ist der umhang  und wieder sinkt Piter

mit Fabergé-Ei  mit heiligen lettern

und schiefäugig dankst du womöglichen rettern

 

In allen exilen gibt ’s retrokraten

die nie dazu kamen  die nie etwas taten

Der Zar nicht unten  Kerenskij nicht oben

das wasser ist hungrig  der wind frißt den koben

 

Exzentrik bedeutet  in formen zu bleiben

der väter verlorene sach zu betreiben

Vielleicht erinnern sich derart verbannte

in gesten verhinderter Konstituante

 

Du bleib in der logik  auch wenn du hinausgehst

Du trägst ja das habit  weil ’s sonst dich ins aus weht

du sucher  gefallen  du heulender wolfshund

und hassest das fleisch doch  liebst seele in goldgrund

 

Burschui wandern am spülsaum der zeiten

wie mäntel die pferdeskelette reiten

wo westwind sie falsch singt  die alten bylinen

auf krachenden schollen  auf rostigen schienen
da trotten sie  Kolja ist einer von ihnen

                                                                              24.8.06

 

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Zeitgefährten von HEL, KUNO 2017

Die Zeitgefährten sind zwischen 1977 – 2008 entstanden, es sind Gedichte für Einzelne, Kopf-, Brust- und Kniestücke, Porträts von Freunden, Kollegen, gereimte Rezensionen, Liebesgedichte, Minnesang und Totenreden, aus 33 Jahren und 7 Städten. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.

Weiterführend →

Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.