Das erste Mal fällt es mir auf, als ich dusche: Eine Falte hat sich in meinem Gesicht gebildet. Hart verläuft sie meinen linken Mundwinkel hinab. Ich fixiere mein eigenes Spiegelbild, versuche zu lächeln, spitze die Lippen. Die Falte aber verschwindet nicht. Es fühlt sich an, als hätte jemand sie in mich hinein gemeißelt, wie eine in eine Skulptur, einfach so, über Nacht.
Seltsam, denke ich, dass ich mein Gesicht auf einmal nicht wieder erkenne.
„Das ist eine eigentümliche Anomalie“, erkläre ich der Hausärztin, als ich am nächsten Tag in ihrer Praxis sitze. Ich versuche, es so zu formulieren, weil ich nicht zugeben möchte, dass ich Probleme mit dem Alterungsprozess habe. Sie aber hat mich durchschaut und blitzt mich aus großen grünen Augen an.
„Sie werden alt“, erklärt sie, nicht ohne Genugtuung.
Ich nicke und blicke sie an, während ich merke, wie mir die Zunge schwer im Mund wird.
„Verstehe. Und was schlagen sie vor?“
„Nun, das ist der natürliche Prozess, der sich fortsetzen wird bis zur Verwesung“, bekomme ich zur Antwort.
Die Frau kann einem Mut machen.
„Aha“, sage ich laut.
„Immerhin leiden sie an keinem Gendefekt“, versucht sie, mich aufzumuntern.
„Aber ich schmiere mir doch jeden Tag eine Creme ins Gesicht!“ bemühe ich mich, meine Haut zu verteidigen. „Außerdem gehe ich doch erst auf die vierzig zu!“
Die Ärztin nickt und wirkt nicht im Mindesten betreten.
„Also, was schlagen sie vor?“
Erwartungsvoll sehe ich sie an und fixiere ihren Lidschlag.
Sie tippt mit ihrer linken Hand, deren Nägel grellgelb lackiert sind, auf ihren Rechner, der auf ihrem Schreibtisch steht und gibt etwas ein.
„Nun, da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten.“
Ich nicke. Die Frau macht es spannend.
„Ich gebe ihnen“, fährt sie fort, während sie nach einem Zettel greift, „die Nummer von einem befreundeten Chirurgen.“
Mit Grauen muss ich an die verzerrten Schlitzaugen gelifteter Schauspielerinnen aus den 80igern denken und winke ab.
„Nein, nein. Es geht wirklich nur um diese eine Falte. Wissen sie. Keine große Sache.“
Die Ärztin seufzt.
„Ich verstehe sie, das haben wir doch alle durch“, meint sie, ohne mich anzusehen.
„In dem Fall wäre vielleicht auch eine Psychotherapie nicht schlecht? Sie wissen schon, man kann innen oder außen arbeiten.“
Das war ein Schlag ins Gesicht.
„Verstehe. Vielen Dank“, sage ich, obwohl ich in keinster Weise befriedigt bin.
„Sehen sie, auch die Haut ist nur eine organische Einheit“, klopft die Ärztin mir aufmunternd auf die Schultern, während sie mich zur Türe geleitet.
Organisch Einheit, denke ich, als ich nach Hause gehe. Das klingt im Grunde ganz gut. Dennoch empfinde ich eine gewisse Fremdheit meiner Haut und besonders der Falte gegenüber. Vor allem, weil die Frauen um mich herum immer jünger aussehen. Vor zwei Jahren hat die Firma SkinInc eine neue Creme auf den Markt gebracht, die angeblich Abnützungserscheinungen und Faltenbildung im Gesicht stoppt und für eine glatte, geschmeidige Haut garantiert und ich wende sie regelmäßig an. Sie sollte doch helfen, oder? Ob ich alt werde? Ob es wohl bergab mit mir geht? Habe ich mit diesem Zug der Verbitterung im Gesicht überhaupt noch eine Chance auf eine Karriere? denke ich. Ich seufze.
Im Badezimmer zupfe und zerre ich an meinen Lippen. Dann stelle ich mir vor, dass ich die Züge in meinem Gesicht neu male, mir meinen alten Mund mit den Fingerkuppen zurück male. Doch es funktioniert nicht so ganz. Eigentlich fand ich den ganzen Jugendwahn immer anstrengend, aber nun merke ich, dass ich alt werde und würde doch ganz gerne jung bleiben.
Ich verlasse das Bad und habe Lust, mich zu verkriechen. Eine Schildkröte zu sein wäre wunderbar, überlege ich. Auch sie haben gerillte Körper und einen überaus faltigen Hals, der an eine Ziehharmonika erinnert. Aber wenn sie sich irgendwo nicht wohl fühlen, ziehen sie einfach den Kopf ein. Dann kann sie niemand sehen.
Schildkröten, denke ich, und auf einmal fällt es mir wieder ein: Meine Großmutter hatte eine Schildkröte. Sie hieß Pipimaus. Ich erinnere mich: Sie war so groß wie ich damals. Ich konnte nur kriechen. Sie konnte nur kriechen. Ich hielt sie in die Höhe, selbst auf dem Rücken liegend. Sie streckte den Kopf nach mir aus. Dann zog sie alle Glieder ein. Ihr Blick war tief und stumm. Kaum war ich vier geworden, lief sie fort. Danach bin ich nie wieder jemandem begegnet, der so ein tiefes stummes Zwiegespräch führen konnte.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, merkte ich, dass ich Mühe habe, mich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. Ich versuche, aufzustehen. Rolle, wackle. Strauchle. Hantle mich schließlich mit den Fingern nach Vorne bis zu meinem Sessel, an dem ich mich in die Höhe ziehe. Meine Wirbelsäule fühlt sich steif an, als wäre sie taub. Kaum habe ich den Spiegel im Badezimmer aufgeklappt, wird mir auch schon wieder komisch zu Mute. Diese Falte, links, sie irritiert mich, ich kann das Bild, das ich von mir habe, nicht mehr korrigieren.
Ein Panzer, denke ich. Ein Panzer wäre nicht schlecht.
Bei dem Wort kommen alte Erinnerungen hoch:
„Ich will eine Schildkröte haben, Mama“, beharrte ich, als ich acht Jahre alt war.
„Da hast du eine, mit der geh ins Bad.“
Mein Vater hielt mir damals eine grellgrüne Plastikminiatur vor die Nase, die nach Gummi stank und die man mit Batterien füttern konnte, sodass sie sie bewegte. In diesen Zeiten waren die Imitationen im Gegensatz zu den Roboter- Spielzeugtieren von heute, die dem Original schon recht nahe kommen- inzwischen gibt es Hunde, die fressen und urinieren können, in Spielzeuggeschäften zu kaufen- billiger „Fake“ gewesen. Und ich war nicht dumm.
„Aber eine echte“, schrie ich also.
„Die macht mir alles an!“ sagte meine Mutter.
„So spricht man nicht“, sagte mein Vater.
Ich begann, zu brüllen.
„Schildkröten werden ganz entsetzlich gequält, über die Grenze geschmuggelt, damit sie hier gekauft werden“, erklärte meine Mutter ein wenig sanfter und schob mir eine Tasse Kakao unter die Nase.
„Ich will eine Schildkröte haben“, schrie ich.
Schließlich wurde ich heiser, ging mit verheulten Augen ins Bad uns spielte mit meiner Gummischildkröte, die mir überaus lächerlich vorkam. Sie war giftgrün, knallig, fluoreszierend. Ihr Aussehen erinnerte auf unangenehme Art und Weise an einen aufgeblähten Luftballon. Sie konnte Wasser schlucken und wieder ausspeien, das war das einzige spannende an ihr.
„Und, geht es dir besser?“ fragte mein Vater.
Ich spritzte ihm ins Auge. Er stieß einen gellenden Schrei aus, der einen erstaunten Unterton hatte. Meine Mutter kam wieder herein. Sie war wütend. Sie schrie.
„Weißt du, was mit Schildkröten gemacht wird? Sie werden über die Grenze geschmuggelt.“
„Das hast du schon gesagt“
„Dabei werden ihnen die Beine abgeschnitten, amputiert und später wieder angenäht. Willst du das? Willst du Schuld daran sein, dass eine Schildkröte wegen dir verstümmelt wird?“
Ich betrachtete meine Füße. Das Wasser schwappte aus der Wanne. Mir war ganz komisch. Ich spürte auf einmal, dass ich eine Zunge im Mund hatte. Ein bedrängendes Gefühl. Der Atem wollte nicht mehr so ganz aus mir heraus kommen, und die Worte auch nicht.
Erst Jahre später fand ich heraus: Meine Mutter hatte mich belogen.
Seltsam, denke ich, während ich so vor mich hin träume. Wie viel wir Menschen doch erleben, und an wie wenig wir uns erinnern, wenn wir nicht in Situationen kommen, die alte Bilder in uns wach rufen. Was soll ich machen? Ich beschließe, fürs erste einmal fern zu sehen.
Das hilft meistens. Irgendwann habe ich einmal irgendwo gelesen, dass der Mensch in keiner anderen Situation weniger denkt als wenn er fern sieht. Das kann ich mir gut vorstellen. Im Übrigen denken die Leute, die unsere Fernsehprogramme gestalten, wahrscheinlich auch nicht mehr als wir alle, wenn wir fernsehen. Das ist beruhigend.
Ich stiere in das Flackern des Bildschirms hinein, dessen Szenenwechsel mir ein seltsames Gefühl von Sicherheit und Rhythmus vermittelt. Immer noch tut mir der Rücken weh. Gut, dass heute Sonntag ist, denke ich. Die Welt bräuchte mehr Sonntage.
Da ertönt ein Geräusch von der Straße her. Ich stehe auf, um das Fenster zu schließen und werfe einen kurzen Blick hinaus. Sieht so aus, als würde jemand hier einziehen. Ein kleines Auto, das so abgefuckt ist, dass es an eine Thunfischdose erinnert, steht auf dem Parkplatz vor der Türe. Ein Mann, auch klein und insofern zu dem Auto passend, steigt aus. Er hat lockiges dunkles Haar, das in alle Richtungen steht.
Inder vielleicht, denke ich. Oder Jude.
Dann schließe ich das Fenster und streife zurück auf meine Couch, den Ort der Seligkeit.
***
Schildkrötentage, Roman von Sophie Reyer. Cernin 2017
Flora entdeckt eine Falte in ihrem Gesicht, hart verläuft sie den Mundwinkel hinab. Sie verliert ihren Job, hat Rückenschmerzen und in ihre Wohnung wird eingebrochen. Wie praktisch es wäre, sich in einen Panzer zurückziehen zu können! Flora wird älter und es ist, als ob sie nun endlich die Schildkröte würde, die sie als Kind immer hatte haben wollen. Von Ärzten und Therapeuten fühlt sie sich missverstanden. Doch dann wird aus der Midlifecrisis eine Midlifecrisis-Liebesgeschichte. Denn Halt bietet Semir, der Hausmeister, der nebenan eingezogen ist. Mit Charme und Freundlichkeit macht er sich in Floras Leben breit. Seine positive Energie steckt an und lässt sie neuen Mut schöpfen. Ganz einfach ist es aber auch mit ihm nicht. Wie Flora schon bald feststellen muss, hat Semir mehr als ein Geheimnis.
Weiterführend →
Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.