Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört

Vorbemerkung der Redaktion: KUNO widmet dem Gedicht auch in diesem Jahr den genauen Blick, das aufmerksame, geduldige, ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlesen. Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungsstränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüche, die es, diese Königsdisziplin, in sich trägt. Poesie zählt auch weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Der folgende Kommentar wurde von Walther Stonet im Jahr 2007 zum ersten Mal veröffentlicht und führte zum Start des Projekts „Walthers Anthologie der Interlyrik“ im Jahr 2008:

 

Ein Volk sollst Du an seinen Dichtern erkennen. Oder vielmehr an seiner Wertschätzung derselben. Da ist es, so scheint es auf den ersten Blick, um Deutschland so schlecht nicht bestellt. Immerhin gehören Goethe und Schiller zu DEN deutschen Genies (lt. ZDF). Im Deutschunterricht erleiden deutsche Schüler seit Generationen Schillers Glocke bis zu deren totaler Verballhornung. Und Jahr für Jahr „reitet er durch Nacht und Wind, irgendwer mit irgendeinem Kind“.

Von neuer deutscher Lyrikwelle ist aber nur im modernen Liedgut eine Spur. Deutsche Popsongs verkaufen sich ebenso glänzend wie deutsche Belletristik. Die Kunst scheint die Gesellschaft wieder eingeholt zu haben, das größere Deutschland seiner selbst wieder bewusster zu werden. Amerikanischer Import ist eben kein dauerhafter Ersatz für eigensprachliche Selbstbespiegelung.

Bei der Lyrik ist dieses Phänomen, die eigene Sprache wieder als Medium des Ausdrucks eigener Befindlichkeiten zu entdecken, bisher nicht richtig angekommen. Das liegt zum einen daran, dass das, was als prämierte deutsche Lyrik durch den Blätter- und Bücherwald geistert, häufig nur für Eingeweihte verständlich ist.

Zum anderen haben ganze Generationen von Deutschlehrern ihren armen Schülern den Spaß am deutschen Gedicht so gründlich ausgetrieben, dass man heute in Lyrikforen sich nicht selten fragt, was das ist, was da steht. Ebenso fragt man sich das häufig auch bei dem, was, wenn es gedruckt wird, in Buchform vor einen kommt. Über das Elend der lyrischen Moderne ist an dieser und anderen Stellen häufig berichtet und diskutiert worden. Noch viel schlimmer ist allerdings, dass zuerst das moderne Gedicht und schließlich jedes Gedicht aus den deutschen Zeitungen verschwunden sind. Dies gilt mit Ausnahme der Frankfurter Anthologie für faktisch alle Literatur- und Feuilletonseiten.

Dichtung aber ist wieder in aller Munde, wenigstens der Jugend. Musikgruppen zeigen, wie es geht, dass wieder deutsch gereimt und gesungen wird. Und das, was dort zu hören und zu lesen ist, übertrifft in der Regel an Qualität, Aussage und lyrischer Kraft allemal das, was bei den meisten Lyrikwettbewerben alljährlich prämiert wird.

Es wird also Zeit, eine alte Zeitungstradition wieder aufzunehmen, nämlich die der Entdeckung guter zeitgenössischer Dichtung und die Förderung der bisher unbekannten guten Dichter, von denen es mehr als genug gibt. Das Internet und die vielen Lyrikzeitschriften aus der Independent-Szene, die nichts, aber auch gar nichts mit Leipzig und Klagenfurt am Hut haben, sind ein reicher Quell, aus dem geschöpft werden könnte, was Kurzgeschichte und Lyrik sowie die vielen Kurzformen der Sprachkunst um sie herum angeht.

Daher wird hier laut gefordert und noch lauter eingefordert: Jeden Tag ein junges, neues deutsches Gedicht in das Feuilleton jeder deutschen Tageszeitung. Das sind wenigstens sechs Gedichte die Woche, 52 Wochen lang. Genau das ist jetzt angezeigt. Nicht mehr und nicht weniger.

 

 

 

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.