jedes kapitel dieses buches von beat gloor, das aphorismen enthält und dabei ohne seitenzahlen auskommt, beginnt, einen roten faden bildend, mit der passage einer geschichte, in der die einen rudern und die andern nicht, während sie miteinander reden. die ruderer könnten leidende in den laufrädern des lebens sein, derweil jene, die nicht rudern müssen oder wollen, wofür sie allerlei begründungen finden, freier und skeptischer denken können. über jemanden, der in schwierigkeiten gerät, sagt man, er müsse rudern. zugleich hat macht und bestimmt den kurs, wer am ruder ist, das heißt die ruderer lenkt. was aus dem ruder läuft, findet laut sprichwort keinen halt mehr. »Wir sind zerstreut, weil wir nicht fließen können.«, lesen wir in gloors aphoristischen gedanken. kreative momente entstehen nicht anders, als daß aus zerstreuung wieder fluß wird. aphorismen bezeichnen, und zwar seit salomo, oft paradoxien.
für einen aphoristiker ists ein gutes zeichen, wenn der rezensent ihn kommentieren, mehr noch aber zitieren möchte. durch einen mitdenkenden leser werden aphorismen dialogisch. »Weitsichtige stolpern schon beim ersten Schritt.« korrespondiert mit lichtenbergs »Er war ein solcher aufmerksamer Grübler, ein Sandkorn sah er immer eher als ein Haus.« und »Der Mann hatte soviel Verstand, daß er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war.« doch beat gloor denkt noch weiter: »Kurzsichtige sägen am Ast, auf dem sie sitzen.« »Heute ein Held, morgen ein Hundename.« assoziiert mir ebenfalls lichtenbergsche gedanken: »Livius wußte schon nicht einmal mehr mit Gewißheit zu sagen ob die Horatier oder die Curiatier die Römer waren.«
auch das hinterfragen von sprichworten und redensarten gehört zum aphoristischen denken. »Von jedem Wort muß man sich wenigstens ein Mal eine Erklärung gemacht haben, und keines brauchen, das man nicht versteht.«, postulierte lichtenberg. »Kultur: Kommt Zeit, kommt Rat. / Natur: Kommt Zeit, kommt Unrat.«, meint gloor. karl kraus schrieb: »Kultur ist die Pflege der Vernachlässigung einer Naturanlage.« bei heiner müller heißts es: »Kommt Zeit, kommt Tod.« ich machte daraus »kommt tod, kommt rat.« »Wie lange muß man leben, um das los zu werden, womit man in frühen Jahren vergiftet wurde?«, fragte elias canetti. beat gloor vermerkt: »Wie soll man etwas verstehen, wenn man zuerst falsche Wörter lernen muß?« und »Bewusst leben heißt zögern.«
aphorismen bezeichnen schlaglichtartige erkenntnisse. und sie formulieren vorübergehende endpunkte von denkprozessen, deren antworten, im besten falle, bereits neue fragen enthalten. eben deshalb verlangt aphoristisches denken, stets erneut die blickwinkel zu wechseln, damit aus verschiedenen perspektiven eine differenzierende, verdichtete und vertiefte ganzheit der betrachtung entsteht. schließlich offenbaren aphorismen lebenserfahrungen. »Wenn aus Erfahrung Klugheit und aus Klugheit Weisheit wird, ist Altern schön.« das gute am älterwerden kann tatsächlich sein, daß sich immer öfter gedanken von allein verknüpfen. freilich muß man dies vorbereiten, indem man die denkfiguren, die dann wirken sollen, erst einmal schafft, entwickelt, verinnerlicht und verarbeitet. plutarch erklärte: »Die geistigen Güter, die wir durch Bildung und Erziehung erworben haben, sie sind das einzige, was an uns unsterblich und göttlich zu nennen ist.« und »der Geist allein bleibt auch im Alter jung, und die Zeit, die alles andere nimmt, fügt dem Alter die Erfahrung hinzu.«
besonders häufig reflektiert gloor die welt des geldes: »Wer Menschen kauft, verkauft Mitmenschen.«, »Der Glaube ans Geld führt zurück in die Zeit vor der Trennung von Kirche und Staat.«, »Philosophie und Wissenschaft waren einmal dasselbe. Religion und Markt waren einmal Gegensätze.«, »Während sich die Märkte erhitzen, erlassen wir Rauchverbote.« »Die Linien der Humanität und der Urbanität fallen nicht zusammen.«, konstatierte lichtenberg. zudem finden sich bei beat gloor gedanken wie: »Wenn die Götter alles hatten, warum wollten sie dann Opfer?«, »Wer die zweite Ableitung schafft, entkommt auch Teufelskreisen.«, »Der Schatten des Menschen ist größer, seit er aufrecht geht.«, »Wer in der Armee gewesen ist, geht nicht mehr in den Zirkus.«, »Pessimisten bringen Pessimisten gern zum Lachen.« und »Wer sich hinabsinken lässt, stößt irgendwann auf Grund. Ab nun ist die Kraft der Depression auf seiner Seite.« vielleicht leben pessimisten, die gefahren wittern, sogar länger. es bleibt freilich die frage, weshalb der mensch gemeinhin höhepunkte anstrebt und tiefpunkte vermeiden will.
aphorismen, gedankensplitter, können durch das verknappte und zugespitzte ihrer gedanken hart wirken und zugleich dem vergröbernd eindeutigen entgegnen, indem sie nachdenklich, fragend, relativierend, mehrdeutig, paradox und ironisch sind. das positive ist bei gloor indes nicht allein die ironie. immer wieder weist er, direkt oder indirekt, auf mögliche inseln humanen verhaltens hin, so wenn er schreibt: »Jeder Wunsch enthält eine Ahnung, wozu wir fähig sind.«, »Ob man die Liebe kennt, ist eine Frage des Selbstvertrauens.«, »Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, wird stärker.«, »Das Glück kommt durch die Lücke.«, »In meinem Erziehungsratgeber steht ein einziger Satz: Kinder sind Menschen.«, »Ist man noch ein Kind, wenn man schon weiß, dass man noch ein Kind ist, fragte sich das Kind.«, »Wir möchten überleben – aber nicht unsere Liebsten.«, »Ab einem gewissen Alter ist jede Bildung Herzensbildung.«, »Wer nicht leiden oder andere plagen will, muss allein sein können.« und »Nutze die Kraft, nicht recht haben zu müssen.«. wer unbedingt recht haben will, vergröbert schnell sein denken.
erstaunt war ich, wie sehr die aphorismen von gloor mit meinen eigenen korrespondieren, sozusagen über die alpen hinweg. hier einige beispiele: »Misserfolge verbiegen – erst der Erfolg bricht uns.« (gloor), »verehrung ist oft nur eine andere form der verachtung.« (benkel), »Was als News daherkommt, entpuppt sich meist als Sprachregelung.« (gloor), »täglich sitzen millionen menschen vor den simulationsmodellen der fernsehnachrichten.« (benkel), »Nostalgie ist eine Art Neid auf sich selbst in früheren Tagen.« (gloor), »nostalgie ist immer eine niederlage. sie meint, und man mißversteht sie daher oft, weniger das wirkliche erleben einer vergangenen zeit, sondern die hoffnungen, die man einst hatte und die meist unerfüllt blieben, weshalb sie fortgesetzt erinnert werden. erfüllte hoffnungen kann man leichter vergessen.« (benkel), »Autorität heißt erlauben, nicht verbieten.« (gloor), »macht hat, wer tolerant sein kann.« (benkel), »Der Ursprung der Prostitution ist das Geld. Und umgekehrt.« (gloor), »wer huren unmoralisch findet, sollte selbst kein geld anrühren.« (benkel), »Wir haben auch für Sie die passende Krankheit – Ihre Privatklinik« (gloor), »bald werden die pharmaunternehmen die krankheiten selbst produzieren, gegen die sie dann die medikamente verkaufen.« (benkel), »Das Recht des Stärkeren wird heute finanziell durchgesetzt. Statt in den Krieg müssen wir nur noch zahlen.« (gloor), »geldmechanismen traten im laufe der geschichte vielfach an die stelle von kriegsmechanismen. dadurch konnten sich humanere umgangsformen entwickeln, die jedoch die grundkonflikte abhängiger menschen nicht beseitigt haben, weshalb dort, wo geld den krieg bloß sublimiert ersetzt, die rückkehr zu überwunden geglaubten verhaltensweisen der gewalt immer möglich bleibt.« (benkel), »In der Antike galt Geld als Zeichen der Erniedrigung. Ein ehrbarer Mensch brauchte kein Geld.« (gloor), »in einer gesellschaft, die alles verwertet, ist es ehrenwert, nicht verwertbar zu sein.« (benkel), »Nur das nicht Existierende hat ewige Qualität.« (gloor), »die verwirklichung entwertet die schöpfung.« (benkel), »Der Attentäter schaut dem Tod ins Auge, nicht dem Leben.« (gloor) »für den selbstmordattentäter wird die explosion zum licht am ende des tunnels.« (benkel).
***
Bestand die Modernität des Aphorismus bisher in der Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur.
Weiterführend → ein Essay über Twitteratur.
Twitteratur, eine Anthologie. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2016.