Geschichtenschreiben

Die Geschichten dieser Welt sind geschrieben und müssen trotzdem immer wieder geschrieben werden, nicht weil wir neue Geschichten brauchen. Sie müssen geschrieben werden, damit die Tradition des Erzählens, des Geschichtenschreibens nicht ausstirbt.

Peter Bichsel

 

Patricia Brooks, Porträt: Daniela Beranek

The future is female, lautet ein bekannter Graffito. Wenn dem so ist, hat sie das Antlitz von Patricia Brooks. In ihrem neuen Band Reissalon greift sie ihre erzählerischen Fäden wieder auf. Bedroht vom Islamismus, schockiert vom Populismus und überwacht von Konzernen durch Algorithmen kehren Autoren wie Brooks zu den existenzialistischen Fragen zurück. Erschöpft von endlosen Dekonstruktionen und Fiktionalisierungen, sucht die Literatur nach neuen Perspektiven und nach neuerlichem Bodenkontakt. Es geht wieder um das Leben, wie es ist. Und die Grenzüberschreitung der Alltagswirklichkeit. Dieses Zurückkehren und Abschreiten und Ansehen ist ausständig. Die beschriebene fiktive Welt liest sich so glaubwürdig und zwangsläufig an wie kaum eine andere literarische Welt. Wir sehen uns einem fantastisch-surrealen Kosmos, der mit lyrischen Gestaltungs– und Stilmitteln durchzogen ist. Die Figuren reisen real durch die Alpen in die Vergangenheit oder im Kopf wirft die Erzählerin existenzielle Fragen auf und ermöglicht uns ein Innehalten.

Sprache eröffnet die Möglichkeit der Rettung, auch wenn sie nur sagt, daß keine Rettung möglich ist.

Auch in ihrem Roman Der Flügelschlag einer Möwe spielt Brooks nicht mit Signifikaten und Signifikanten, sie geht der Frage nach, was es bedeutet, ein authentisches, im umfassenden Sinn menschliches Leben zu führen, hineingeworfen in eine zunehmend inhumane Welt. Die Kunst liegt in diesem Roman darin, auf robuste Weise feinnervig und filigran zu sein. Es ist eine gnadenlos genaue Studie, die den Schrecken evoziert, das Wissen um die Gewalt in der Welt, diese Prosa klingt zuweilen wie hypnotisiert und hat selber hypnotisierende Wirkung. Der Leser befindet sich einen Flügelschlag zwischen Trauma und Traum, und zwischen den Worten lauert der Tod. Ihre Erzählungen und nicht zuletzt ihr Roman Der Flügelschlag einer Möwe, reflektieren auf einer Sub-Ebene  auch den Umbau einer Arbeitswelt, die immer mehr Flexibilität verlangt. Es zeigt sich, wie wichtig die existenzialistischen Hinterlassenschaften sind und man sich wieder um Freiheit, Unaufrichtigkeit und Solidarität bemühen muss.

Ist der Siegeszug des Authentischen in der neorealistischen Literatur ein Symptom des Postcool? – KUNO plädiert für die Eigenmacht der ästhetischen Erfahrung. Betrachten wir das Textsorten-Patchwork von Ulrich Bergmann näher.

Ulrich Bergmann hat seine Splitter für KUNO als Kurator seiner selbst sinnfällig angeordnet. Wenn wir dieser Anordnung folgen, lesen wir einiges von dem, was die Redaktion bereits auf KUNO seit dem Originaljahr des Entstehens in die Timeline hat einfließen lassen um sichtbare und unsichtbare Korrespondenzen aufzuzeigen. Seit über 30 Jahren verfügt Ulrich Bergmann als intensiver Beobachter über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Daß diese Welt brüchig ist, zeigt sich im Detail. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich ein Liebesakt (wie wir in seinen Schlangegeschichten nachlesen können), der Geburt und Erleuchtung vereint. In Bergmanns Splitter-Prosa herrscht die Ästhetik der Fernbedienung, der Autor zappt von einer Szene zur nächsten und die Episoden sind ebenso phantasievoll wie nachdenkenswert. Mit all ihren Stärken und Schwächen ist diese Prosa so ambivalent wie das Leben, das dieser Autor einzufangen versucht. Mit der feinen Ironie des Kenners beschreibt Bergmann eine Gesellschaft, die mit den Konsequenzen ihrer Gewißheitsoption nicht mehr angemessen umgehen kann. Diese Schriften sind eine zeitlose Verteidigung der Meinungs-, Kunst- und ganz besonders der Literaturvielfalt, Bergmann schafft einen pragmatischer Raum für realistische Unendlichkeiten.

Bei den Hippies war das Private politisch und umgekehrt. Emotionalität durch Poesie zu vermitteln, ist für Angelika Janz die eine Sache, der emanzipatorische Umgang mit Gefühlen die andere.

An der Schnittstelle der Unschärfe produziert Angelika Janz gebrochene Symmetrien von Schritten zwischen Geist und Ding.  Sie ist immer die langen Wege gegangen, der Titel Fern, fern für ihre Prosa-Reihe auf KUNO stammt noch aus analoger Zeit (eine Echolot in die untergehende DDR). Es ist eine Weltwahrnehmung mit Tiefenschärfe. Janz ist eine Künstlerin der Anverwandlung, mit fein gebauten Sätzen fängt sie etwas von der Erinnerungswelt ein, von den Rissen und von den Wahrnehmungsdetails dieser Sphäre. Es ist bei näherem Hinsehen und genauem Lesen Internet-Literatur im besten Sinne. Janz schöpft aus Repetition eine subtile Funkiness, es ist hypnotische Poesie. Sie hat das Unnötige weggelassen und sich auf das beschränkt, was für die Poesie am wichtigsten war. Die Wiederholungen mit den feinen Nuancen und Variationen, das war das, was von den Lesern vielleicht gar nicht wahrgenommen wird, aber das Besondere an dieser Sprache sind Feinheiten, die nicht nur in den technischen Fertigkeiten ihren Grund haben, sondern auch von dichterischen Format zeugen. Brüchigkeit ist hier Strategie. Niemand soll sich hier in den Worten verlieren, aus Misstrauen gegen zu einfache Immersion, aber auch aus Notwendigkeit: Für die komplexe Argumentation, die diese Reihe verfolgt, braucht man Konzentration. Das Experimentelle, das Durchdachte, bei ihr ist diese Gemengelage nie zu ausufernd.

Walter Benjamins Rede von der „Ästhetisierung der Politik“ (im Faschismus) und der „Politisierung der Ästhetik“ (im Kommunismus) steht in der Jetztzeit die sogenannte „Kreativarbeiter“ der Globalisierung gegenüber.

Erst wenn uns die Computerprogramme das Denken abnehmen, erscheinen Zweifel angebracht. Kreativität, Innovation und künstlerische Schöpfung nur im Kontext des brillanten Individuums denkbar, das durch den „digitalen Maoismus“, wie ihn das Internet hervorbringt, gefährdet ist. Hieraus leitet sich für Jaron Lanier ein weiterer Kritikpunkt ab: Freie und OpenSource–Software habe auch versagt, weil sie einigen wenigen Firmen ermöglicht habe, große, zentralisierte Dienste und Datenbanken zu entwickeln, um im Folgenden von der Verarbeitung und Ausbeutung der Nutzerdaten zu profitieren. In Cyberspasz, spielt A.J. Weigoni die Wirksamkeit der Asimov’schen Gesetze der Robotik durch und der Leser erkennt, daß der Sprung der künstlichen Intelligenz zum Bewußtsein und damit zum Verlangen nach Selbstbestimmung unabwendbar ist. Die Behauptung Zeit, Entfremdung sei durch Flexibilität ersetzt worden und Identität durch Netzwerke, ist eine Lüge, die allein der Steigerung des Umsatzes dient. Wovon immer diese Cyborgs träumen, harmlose elektrische Schafe sind es wahrscheinlich sicher nicht. Es ist ein beständiges Rauschen von Stimmen in der Prosa von Weigoni, der mit liebenswürdigen Einfällen bezaubert und mit seinem Sprachwitz überzeugt. Ein Finder und Erfinder von Geschichten, in der großen wie der kleinen Form.

Hat der Cyberspace einen Notausgang?

Coverphoto: Anja Roth

Wie bereits in den Erzählungen Zombies eingeleitet, beschreibt er außerordentlich klarsichtig das mögliche Ende einer Gesellschaft, so wie wir sie kannten. In seinen Erzählungen geht es immer wieder um den Wert der Freiheit des Einzelnen, um Ausbeutung, um Individualismus und Selbstbestimmung in Systemen, religiösen wie politischen, die auf Gleichschaltung ausgelegt sind. Weigonis verknüpfte Prosa ist zugleich eine Erzählung über die Niederlage des Einzelnen in seinem Aufbegehren gegen Herrschaftsverhältnisse, daabei steht das heroische und autonome Individuum im Zentrum vieler populärkultureller Selbstbeschreibungen der europäischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu dieser Narration verweist Cyberspasz auf die Unmöglichkeit autonomer Handlungen im gesellschaftlichen Gefüge. In diesen Reflexionen findet sich einiges Vertrautes, etwa zu Walter Benjamins Prinzip des dialektischen Bildes, aber Weigoni geht besonders auf neuere medienästhetische Entwicklungen ein. Technologie erscheint als DNA des menschlichen Geistes, teils berechenbarer Algorithmus, teils epigenetischer, unvorhersehbarer Prozess. Sie materialisiert sich in konkreten, neuen, aber auch vertrauten Formen, hält der nüchternen Perspektive auf die Welt eine zweite, erweiternde Sicht vor, so etwas wie die visuelle Kehrseite der Dinge. Ob real-time-writing je funktionieren wird, wie Collaborative in die Gänge kommt und ob Hypertext wirklich die Rache der Literatur am TV ist, wird sich noch erweisen… WIR werden es nicht sehen, sondern mittels einer alten Kulturtechnik vollziehen: Lesen.

 

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Reissalon, Erzählungen von Patricia Brooks, edition taschenspiel, 2016

Der Flügelschlag einer Möwe, Roman von Patricia Brooks. Verlag Wortreich, 2017

Splitter, Kurzprosa von Ulrich Bergmann, KUNO 1989 – 2014

Fern, fern, Kurzprosa von Angelika Janz, KUNO 2017/18

Zombies, Erzählungen, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermonatge: Jesko Hagen

KUNO übernimmt Artikel von Kultura-extra, aus Neue Rheinische Zeitung und aus fixpoetry. Betty Davis sieht darin eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt hybride Prosa. Enrik Lauer deutet Schopenhauer im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.