Gibt es eine Wieder-Vereinigung?

Vielleicht beginnt das Unglück in dem Augenblick, in dem einer den anderen zu durchschauen glaubt. Solange wir wissen, dass wir unerkundbar sind, ist Liebe.

Ilse Aichinger

Abgeschlossenes Sammelgebiet ist das diametrale Gegenteil der ideologisch wohlfeilen Tendenzliteratur. A.J. Weigoni stellt in seinem Roman die Frage, was Liebe ist, ohne den Hochmut zu besitzen, sie beantworten zu wollen. Vielleicht ist Liebe vor allem Narration, in weiten Teilen eine Fiktion, wie bei Petrarcas Sonetten an eine erfundene Frau. Liebe ist nicht einlösbar, der totale Anspruch, der hinter diesen Vorhaben steckt, die Bedingungslosigkeit, die Unbegrenztheit. Davon zu erzählen, ganz ohne in Gefühligkeit zu verfallen – das schafft nur ein großer Romancier. Begehrensstrukturen haben die Auffassung von Liebe verändert, nicht nur Liebeskonzepte, sondern auch dazugehörige Gefühle sind wesentlich durch den gesellschaftlichen Rahmen geprägt, in dem sie gelebt werden. Vom „authentischen Drama des Zusammenseins“, vom „oszillierenden Plasma der Beziehungen“, vom „Innen/Aussen-Paradoxon“ ist in den Ratgeber-Büchern die Rede.

What’s love got to do, got to do with it

Tina Turner

Dieser Roman widerlegt die Reinheit der ersten Augenblicke. Weigoni versucht dem Akt des größten menschlichen Begehrens unter erschwerten Bedingungen gerecht werden. Liebe ist unter hypermodernen Bedingungen einerseits emotional stark aufgeladen, andererseits unterliegt sie der allgemeinen Rationalisierungs- und Entzauberung durch den Diskurs der Naturwissenschaft und der Psychologie. Die westliche Kultur ist besessen vom Thema der romantischen Liebe. Es ist eine Illusion, die mit dem Hochzeitsmythos in der Populärkultur immer genährt wird. Die Braut sieht sich in einer Celebrity-Fantasie als Star, für einen Tag.

Nur in den rätselhaften Gleichungen der Liebe lässt sich Logik finden.

Ron Howard

Diese Typen befinden sich in einem Prozess der Identitätskonstruktion. Poesie ist hier kein Mittel, um wegzuschauen und sich zurückzuziehen, sondern um viele verschiedene Stimmungen aufzunehmen. Weigoni verewigt in Abgeschlossenes Sammelgebiet die Flüchtigkeit der Liebe: zum Vaterland, zur Oper und zum „Lebensabschnittgefährten“, die Grammatik dieser Liebe gehorcht jedoch unregelmäßigen Gesetzen. In der Zeitenwende, wo alle immer hektischer nach dem großen Gefühl suchen und dabei von vornherein genaue Vorstellungen haben, scheint es immer fraglicher, ob die Liebe überhaupt noch eine Chance hat, real zu werden. Und wenn ja, würde man sie überhaupt erkennen?

Wenn Macht unterkomplex wird, entsteht Gegenmacht.

Niklas Luhmann

Auf Dauer überlebensfähig ist allein eine Gesellschaft, die aus der Geschichte für die Gegenwart und für die Zukunft zu lernen vermag. Falls der große Gesellschaftsroman mit seinem Hang zu traditionellen Erzählweisen überhaupt noch für das 21. Jahrhundert angemessen ist, dann so, wie Weigoni ihn handhabt. Abgeschlossenes Sammelgebiet ist der Versuch, gegen die zunehmende Geschichtslosigkeit anzukämpfen.

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.