Die Freundschaft Benjamin–Brecht ist einzigartig, weil in ihr der größte lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zusammenkam. Und es spricht für beide, dass sie dies wussten
Hannah Arendt
Langes Gespräch in Brechts Krankenzimmer in Svendborg, gestern, kreiste um meinen Aufsatz Der Autor als Produzent. Die darin entwickelte Theorie, ein entscheidendes Kriterium einer revolutionären Funktion der Literatur liege im Maße der technischen Fortschritte, die auf eine Umfunktionierung der Kunstformen und damit der geistigen Produktionsmittel hinauslaufen, wollte Brecht nur für einen einzigen Typus gelten lassen – den des großbürgerlichen Schriftstellers, dem er sich selber zuzählt. »Dieser«, sagte er, »ist in der Tat an einem Punkt mit den Interessen des Proletariats solidarisch: am Punkt der Fortentwicklung seiner Produktionsmittel. Indem er es aber an diesem einen Punkte ist, ist er an diesem Punkt, als Produzent, proletarisiert, und zwar restlos. Diese restlose Proletarisierung an einem Punkt macht ihn aber auf der ganzen Linie mit dem Proletariat solidarisch.« Meine Kritik der proletarischen Schriftsteller Becherscher Observanz fand Brecht zu abstrakt. Er suchte sie durch eine Analyse zu verbessern, die er von dem Gedicht Bechers gab, das in einer der letzten Nummern einer der offiziellen proletarischen Literaturzeitschriften unter dem Titel »Ich sage ganz offen …« abgedruckt war. Brecht verglich es einerseits mit seinem Lehrgedicht über die Schauspielkunst für Carola Neher. Andererseits mit dem Bateau Ivre. »Carola Neher habe ich ja verschiedenes beigebracht«, sagte er. »Sie hat nicht nur gelernt zu spielen; sie hat bei mir z.B. gelernt, wie man sich wäscht. Sie wusch sich nämlich, um nicht mehr dreckig zu sein. Das kam ja garnicht in Frage. Ich habe ihr beigebracht, wie man sich das Gesicht wäscht. Sie hat es darin dann zu solcher Vollendung gebracht, daß ich sie dabei filmen wollte. Aber das kam nicht zustande, weil ich damals nicht filmen wollte und vor jemand anderm wollte sie es nicht machen. Dieses Lehrgedicht war ein Modell. Jeder Lernende war bestimmt, an die Stelle seines ›Ich‹ zu treten. Wenn Becher ›Ich‹ sagt, dann hält er sich – als Präsidenten der Vereinigung proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands – für vorbildlich. Nur hat niemand Lust, es ihm nachzutun. Man entnimmt einfach, daß er mit sich zufrieden ist.« Brecht sagt bei dieser Gelegenheit, daß er seit langem die Absicht hat, eine Anzahl von solchen Modellgedichten für verschiedene Berufe – den Ingenieur, den Schriftsteller – zu schreiben. – Auf der andern Seite vergleicht Brecht Bechers Gedicht mit dem von Rimbaud. In diesem, meint er, hätten auch Marx und Lenin – wenn sie es gelesen hätten – die große geschichtliche Bewegung gespürt, von der es ein Ausdruck ist. Sie hätten sehr wohl erkannt, daß darin nicht der exzentrische Spaziergang eines Mannes beschrieben wird, sondern die Flucht, das Vagabondieren eines Menschen, der es in den Schranken der Klasse nicht mehr aushält, die – mit dem Krimkrieg, mit dem mexikanischen Abenteuer – beginnt auch die exotischen Erdstriche ihren merkantilen Interessen zu erschließen. Die Geste des ungebundenen, dem Zufall seine Sache anheimstellenden, der Gesellschaft den Rücken kehrenden Vagabunden in der modellgerechten Darstellung eines proletarischen Kämpfers aufzunehmen, sei ein Ding der Unmöglichkeit.
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Benjamins Essay Der Autor als Produzent lässt sich im Zuge der Debatten wiederlesen, ob das Web 2.0 wirklich mehr Partizipation möglich macht. Auch Brecht habe den Standpunkt vertreten, „Medienkonsument_innen sollten zu Produzent_innen werden. Die Produzent_innen sollten sich demnach das Medium – damals noch das Radio – aneignen und ihre eigene Meinung verbreiten. Die proletarische Partizipation ließ auf Veränderung der vorherrschenden Meinungen und eine Teilhabe der Minderheiten an der Mitgestaltung der Öffentlichen Meinung hoffen“, so Deborah Schmidt in ihrem Beitrag zu feministischen Öffentlichkeiten im Web 2.0 von 2011. Ein Mehr an Partizipationsmöglichkeiten habe allerdings nicht automatisch zur Folge, „dass alle die gleichen Zugangsvoraussetzungen haben und schon gar nicht, dass diese Partizipation emanzipatorischer ist und gesellschaftskritischer mit Inhalten umgeht.
Die Akademie der Künste in Berlin zeigt unter dem Titel Denken in Extremen eine Ausstellung über Walter Benjamin und Bertolt Brecht. Bis 28. Januar 2018