Eine Gebrauchsanweisung zum Verständnis gegenwärtiger Dichtung am Beispiel von „istanbul. eine matrjoschka“ von Dennis Mizioch
LÖCHER IM POLYPROPYLENGEWEBE lautet der neueste Titel der zentralrheinischen Literaturzeitschrift mit dem doppelzüngigen Namen Dichtungsring. Michael Kohl, Herausgeber zusammen mit Werner Pelzer, schreibt im Editorial:
„Im Langgedicht istanbul. eine matrjoschka. von Dennis Mizioch sind die Löcher im Polypropylengewebe das, was übrig bleiben wird von einem Strauch, vom Leben. Löcher in einer weggeworfenen Plastiktüte. Löcher im Polypropylengewebe stehen aber auch, und hier verlasse ich den metaphorischen Kontext des Gedichts von Mizioch, für Löcher in der bunten und glatten Oberfläche der real erscheinenden Welt. Löcher, durch Literatur und Kunst gerissen, Löcher, durch die Literatur und Kunst blicken, um die Welt unter dieser Oberfläche zu vermessen.“
Ein philosophischer Text also? Und das in der Sprache der Poesie? Ich denke: ja, wenigstens indirekt, und zugleich ist der Text eine bildreiche, anspielungsvolle Kurzanalyse erlebter Gegenwartswelt.
Dennis Mizioch, 1992 in Karlsruhe geboren, ist Lehramtsstudent der Germanistik und Chemie in Heidelberg und Mitbegründer des dortigen Literaturkreises echolot (seit September 2015). 2015-2017 war er Mitglied der Darmstädter Textwerkstatt unter Leitung von Kurt Drawert.
Nun aber medias in res: es geht um das Polypropylengewebe und seine Löcher. Dennis Mizioch schreibt in seinem lyrischem Prosatext:
„eine plastiktüte hat sich in einem busch verfangen. sie wird ihn überleben. der busch wird eines tages nicht in flammen aufgehen, er wird einfach verdorren und schrumpfen, verschwinden. wie ein mensch. seine existenz wird man nur durch die löcher im polypropylengewebe nachweisen können.
an der bushaltestelle stapelt sich müll in pappkartons. auf einem davon steht amazon. es reicht nur der anblick dieses kartons, gewellt vom regen, in dem sich leere joghurtbecher stapeln:
ich bin umgeben von ruinen. menschen sind ruinen, und die worte die sie sprechen, und die gedichte die sie schreiben. die zerklüfteten sandsteinmauern sind ruinen, und die schwarzen katzen, die darauf sitzen, alles besteht aus ruinen; und mit jedem blinzeln entsteht eine neue leerstelle.
[…]
am kleiderschrank kleben polaroidfotos aus istanbul. das sonnenlicht spiegelt sich auf dem kunststoffpapier, es ist ein anderes als das in den bildern. die finger des jungen gleiten vorsichtig über die polymerfolie. jahre später wird er die fotos wieder finden, in irgendeinem pappkarton, in dem er eigentlich den toaster vermutet hatte. er wird die bilder anfassen, ansehen, ins licht der lampe halten. die glänzenden fingerabdrücke auf dem kunststoffpapier werden ihn treffen wie ein messerstich zwischen die rippen.“
Der beiläufige Held in dieser Momentaufnahme ist umgeben von Plastik und Müll. Es ist eine durch und durch künstliche, flüchtige Welt – aber die Erinnerung leuchtet von Gefühlen und lebt. Und doch bleibt am Ende nur eine Leerstelle, ein virtuelles Nichts. Der Tod ist das Loch, in das wir alle fallen. Am Ende überlebt uns der Stoffwechselprozess unserer Artefakte und, wenn es hoch kommt, die Form, die Leerstelle also. Das Loch ist die Form.
Wo Löcher als Formprinzip das Sein konstituieren, triumphiert der Schein über das Sein: eine Matrixwelt. Mizioch nennt seinen Text eine matrjoschka, eine ineinandergeschachtelte Puppe. matrjoschka – die kleine Mutter, das Mütterchen. Auch Matrix kommt von mater, Mutter. Die Puppe in der Puppe in der Puppe, eine kleine Dynastie also, versinnbildlicht unser Zeitalter in seiner Reproduzierbarkeit.
Das Polypropylengewebe trägt noch eine andere Idee. Der Stoff, CH3, ist ein thermoplastischer Hochleistungskunststoff, etwas härter als Polyethylen. Der Stoff ist verformbar, die Verformung ist grundsätzlich reversibel. Bei sehr starker Erhitzung verflüchtigt sich das flüssig gewordene Polypropylengewebe, es verschwindet im großen Loch des Seins, im Nichts. Das ist die Leerstelle. Wenn man aber seinen thermoplastischen Aggregatszustand in Ruhe lässt, ist das Polypropylen beständig und kaum ermüdbar – etwa in Scharnieren.
Den thermoplastischen Kunststoff gibt es als Spritzguss, oder in Blasform – und nun erkennen wir auch langsam seine Bedeutung etwa als Joghurtbecher oder Füllmaterial in Verpackungen. Seine Beständigkeit erweist Polypropylen auch als Schaumstoff. Da sieht man auch die Löcher. Sie sind wichtig für die unermüdliche Verformung. Als Kissen gibt es nach, beim Sitzen werden die Löcher kleiner, verschwinden jedoch nie ganz, und sie weiten sich immer wieder, und zwar beständig.
Dennis Mizioch sieht unsere Welt auch als Schaumstoffwelt, deren Gewebe vom Loch geradezu lebt, wie überhaupt alle Natur: Ohne Loch, ohne Form oder das Nichts und den Tod kein Werden! Das ist die biologisch-existenzialistische Sicht. Zugleich ist Miziochs poetische Beschreibung eine subtile, leicht ironische und zugleich ganz ernst gemeinte Kritik an einer Welt und einem Sein, das hohl ist. Und der Text stellt permanent die Frage:
Was ist angesichts der Schwankungen aller Erscheinungsformen überhaupt Realität?
Erinnert sei noch einmal an MATRIX I, den großartigen Film der Wachowski-Geschwister, und an die Matrjoschka. Welt, Leben, Existenz und Realität – das sind thermoplastische Begriffe. Auch Schein und Schaum haben eine reale Seite, und Traum- und Schaumstoff gehören zu unserer Welt als Wille und Vorstellung.
Schaum-Stoff – und hier schließt sich ein Kreis – so hieß die Dichtungsring-Nummer 28/29 im Jahr 2000.