Heimkehr ins Unbekannte

Ausserhalb des Ratinger Hofs existierte Düsseldorf für mich lange Zeit nicht.

Michel Decar

Die weitgespannten assoziativen Bezüge, die Weigoni aufgespannt hat, fängt der Roman in der sinnlichen und konkreten Individualität der Figuren wieder ein, ohne seine motivische Vielschichtigkeit ganz aufzuheben. Nach seinem ersten Roman Angeschlossenes Sammelgebiet fächert A.J. Weigoni das auf, was Enrik Lauer als Scharnier–Jahrzehnt bezeichnet, er macht die Zeit lebendig, läßt die Figuren leben und in angemessener Unwissenheit darüber bleiben, wie es historisch weitergeht. Die Sprache biedert sich nicht der Geschichte an, redet nicht moderner als sie war. Was bleibt, ist das Portrait von Rheinländern in der lebenshungrigen, fragilen Widerspenstigkeit ihres Eigensinns, in einem Roman, den genau diese anmutig fragile Widerspenstigkeit in seiner Prosa auszeichnet. Manchmal, wenn Weigoni ab- und ausschweift, um den Punkt kreist, wenn er lauert wie die Katze auf die Maus, wirkt der Text improvisiert, dann wieder direkt und pointiert – und immer folgt man diesem rasanten Ganzen atemlos.

Heimat ist da, wo die Rechnungen ankommen.

Wim Wenders

Die Prosa mutet bisweilen wie ein sprachliches Bildbelichtungsverfahren an, durch das etwas wie eine ‚Poesie der letzten Bilder‘ entsteht. Weigoni erschließt eine Sinneskulture und erkundet die Wissenstopographie des Rheinlands. Dieser Romancier beobachtet scharf und unaufdringlich. Seine dem Leben abgelauschten Figuren hat er mit sonderlichen sprachlichen Eigenheiten und Marotten ausgestattet, ihnen groteske Attribute und sprechende Namen verliehen, in denen sich Charaktereigenschaften und physiognomische Merkmale aufs Tragikomischste abbilden. Entstanden ist so eine Ansammlung der verschrobensten Gestalten des Rheinlands, die Komik entsteht nicht auf Kosten dieser Population, sondern transportiert sich mit ihrer Hilfe. In puncto Format, Personnage, Darreichungsform und Stil sitzt bei Weigoni der rheinische Maßanzug wie angegossen.

Einwandern ins eigene Leben

Das Unergründliche und das nur allzu Simple liegen im Rheinland oft nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Die Zeichen der Dekadenz und moralischer Verkommenheit sind im Rheinland offenbar. Weigoni zeichnet mit den Lokalhelden Figuren, die ihr Leben nicht aktiv in die Hand nehmen und darum, sich im Wortsinn auch nicht schuldig machen an den Ereignissen. Er fängt damit die Agonie dieser Spezies ein, die Rheinländer werden  vom Schicksal mutwillig herausgeworfen aus ihrem Alltag, und ihre Schuld besteht darin, die Kraft zum Widerstand nicht aufgebracht zu haben. Manche sehen in diesem Romancier den letzten Polyhistor; manche heben aber auch seinen Dilettantismus hervor. Der Leser hätte Probleme, wenn er bestimmen müßte, welcher Wissenschaft Weigoni zuzurechnen sei. Ist er Anthropologe? Ethnologe? Historiker? Psychologe? Vergleichender Religionswissenschafter? Soziologe? Politologe? – Er ist alles das und doch keines davon.

Die Konstruktion eines literarischen Textes setzt uns in bestimmter Weise ins Verhältnis zur Wirklichkeit.

Peter Weiss

Die schöpfende Kraft fließt hier aus einer radikalen Entgrenzung und aus Widerstandsbestrebungen gegen erstarrte Gesellschaftsformen heraus. Das Denkerische der Argumentation, hier in Form eines interessanten Paradoxes nachvollziehbar, stellt die Qualität des Buches dar, das aufgrund dieses klaren Blicks auf Nuancen auch nicht ins Satirisch-Karikaturistische abrutscht, sondern bei seiner Sache bleibt. Seine Kenntnisse sind bewundernswert, staunenswert ist aber auch sein Mut, alles, was nicht unmittelbar zu seinem Thema gehört, einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Seine Literatur erfrischt und verfeinert die Sinne durch eine Ermutigung. Sie zeichnet nicht allein Formen des Hörens, Riechens, Schmeckens vor, jenseits der uns umgebenden Abgedroschenheit. Sie beweist uns: Nicht unsere Wahrnehmungen sind eingeebnet in Pauschalisierung, die Dinge sind unverbraucht.

Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.

Martin Walser

Dieser Roman ist keine Story nach dem Prinzip des Linearen. Eine narrative Stringenz wird von Weigoni in diesem Roman explizit verweigert. Die Prosa geht aus Strudeln hervor. Sie entsteht in einer Werkstatt der Momentaufnahmen und Bilder, der assoziativen, leicht deliranten Verknüpfung von Orten, Zeiten, Erinnerungen und Episoden, die der Werkstatt von Lyrikern ähnlich ist. Diese Prosa ist gleichzeitig erfahrungsgesättigt und bildungsgetränkt, alltagsmythologisch und gedankenverspielt. Souverän bewegt sich Weigoni zwischen Erinnerung und Erfindung, Realismus und Imagination, Melancholie und Utopie, Komik und Katastrophe. Jeder Rheinländer hat das Recht, an der universalen gesellschaftlichen Ordnung teilzunehmen, unabhängig davon, wo er oder sie in der gesellschaftlichen Hierarchie steht. Egalitarismus ist gegen jede Form des Korporatismus gerichtet: Nicht deine Stellung im Gesellschaftskörper bestimmt deine Lebenschancen, sondern dein Handeln, dein Denken, dein Leisten.

Heimat ist, wo noch niemand war.

Ernst Bloch

Die Bonner Republik gleicht einem Staubecken für Schicksalsgetriebene. Das Gestern ist hier schockgefrostet, nach der Abwicklung der DDR soll der nächste Plan realisiert werden: die Beseitigung der alten BRD. Die Rheinländer misstrauen den grossen Erklärungen, freuen sich an den kleinen Fortschritten, die sich da und dort trotz allem abzeichnen – und bleiben dabei heitere Skeptiker. Sie sind Strategen, sowohl der ständigen Selbstneuerfindung als auch der Geschmacksverirrung. Die Spannung zwischen Weltformat und unabschließbarer Reflexivität ist für sie nur schwer zu ertragen. Der einzige Grund in diesem Landstrich zu überleben und nicht in den lächerlichen Ritualen, aus denen sich sowohl Sein als auch ihr Alltag zusammensetzen, ist die abgründige Simplizität. Das sogenannte ‚Scharnierjahrzehnt’ zwischen dem 9. November 1989 und dem 9. September 2001 erscheint in diesem Roman als etwas, das jederzeit seine Präsenz, seine Schärfe und seine Umrisse zu verlieren droht. In der Sprunghaftigkeit des Romans zerspringt nicht nur das homogene Erzählen, sondern das Leben zu dieser Zeit selbst. Beides zuweilen bleibt ohne Struktur, nicht nur das erzählte Fragment. Gegen diesen Verlust schreibt dieser Analytiker des Untergangs an, mit Leidenschaft und Sturheit und der ihm eigenen Radikalität. Es ist der Versuch eine hochkomplexe, zersplitterte Welt wieder in die kohärente Erzählung einzufangen.

 

 

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Eine Vorschau auf: Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover. Vorbestellungen bereits möglich-

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Coverphoto: Jo Lurk

Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.