die prosaminiaturen von haimo hieronymus, einem meister des gegensinns, in Unerhörte Möglichkeiten / Kurznovellen aus dem Nippiversum, sind kaum länger als vier oder fünf zeilen. doch sie beschreiben gerade in ihrer verknappung präzise plötzliche dialektische umschläge, die, indem eine kleine drehung in der logik der abläufe und dinge die wertigkeit verändert, große und tragische, oft jedoch auch komische, konsequenzen haben. letztlich ist jede tiefere dialektik paradox. die hellsichtigkeit, mit der die nipp-texte gewohnheiten und neigungen der menschen beleuchten, kann den leser erschrecken, während die erheiternde ironie ihn wieder versöhnt.
der name nipp läßt zunächst an nippes oder nippsachen, also zierfiguren, denken, siehe französisch nippes = putzsachen, schmucksachen, kleidungsstücke, klamotten. das nippiversum ist dann die nippische wirklichkeit. nippen bedeutet allerdings einen schluck nehmen. englisch to nip heißt kneifen, zwicken, klemmen, schneiden, nipper schere und nippers kneifzange. vielleicht nimmt herr nipp schlucke vom leben und kneift sich selbst ins bein ob der absonderlichkeiten, die ihm dabei begegnen, nippes inbegriffen.
einige der ambivalenten, paradoxen, absurden und ironischen, und mitunter makabren und zynischen, miniaturen seien hier zitiert: Die Walnüsse, »Das Blatt«: »Das Bier mundet ihm ausgezeichnet, bayrisches Weizenbier aus einer Klosterbrauerei. Der heftige Geschmack übertüncht alles. Noch weiss er nicht, dass dem Wirt ein Blatt des Eisenhutes ins Glas gefallen war.«, »Der Romantiker«: »Es war eine wunderschöne Nacht gewesen. Die Vögel hatten gezwitschert bis ins Dunkel hinein. Er hatte bei ihr gelegen, seiner Traumfrau, seiner Jugendliebe. Kitschromantik pur. Auch in Zukunft würden sie sich nie wieder trennen. Reihe 15, Gruft 5 und 6.« und »Das Objektiv«: »Aus dem Hinterhalt zoomt die Kriegsfotografin ihre Geschehnisse, die Opfer des Konfliktes heran. Sie hat endlich den Heckenschützen entdeckt. Oberstes Stockwerk. Als sie das Foto schießt, sieht sie ihn abdrücken.« der leser kann hier an johann peter hebels und bertolt brechts kalendergeschichten, kleist anekdoten, lichtenbergs aphorismen, freuds witze oder woody allens filme denken. ironie ist eine seitenlinie des reflektierenden denkens. wenn man über etwas lange, intensiv und tief genug nachdenkt, entdeckt man meist auch das komische daran.
das cover von Unerhörte Möglichkeiten zeigt krabbelnde ameisen. »die Buchstaben sind wie Ameisen und haben ihren eigenen Staat«, vermerkte elias canetti. ameisen galten als klug und waren orakeltiere. könig salomo soll sie untereinander sprechen gehört haben. horapollon schrieb über die ägypter, wenn sie erkenntnis meinten, zeichneten sie eine ameise. denn was immer ein mensch sicher verstecke, sie finde es. aber auch weil sie umsichtig und vorausschauend vorräte für den winter heranschafften und ihren bau nicht verfehlten, seien ameisen erkennende tiere. im grimmschen märchen »Die weiße Schlange« verleiht das essen einer schlange die fähigkeit, neben der vogelsprache einen ameisenkönig zu verstehn. in der fabel von der ameise und der grille, etwa bei jean de la fontaine, symbolisiert die ameise den klugen sinn und die grille den gesang. nach deutschem volksglauben stärkte der geruch von ameisensäure das menschliche gedächtnis. ameisen verständigen sich durch betasten mit den fühlern und duftstoffe, die auch als wegmarkierungen genutzt werden. achim von arnim indes meinte, »daß die ganze Gelehrtenrepublik nichts als ein Ameisenhaufen sei, der alles belaufe, kneife und beschmutze, um einigen armseligen Weihrauch zusammen zu bringen.«
auch die etwas längeren miniaturtexte im band Die Angst perfekter Schwiegersöhne – ernste Geschichten von Herrn Nipp, die ebenfalls merkmale von kalendergeschichten, anekdoten, fabeln, aphorismen oder witzen haben und worin zugleich viel autobiographisches material verarbeitet wird, das von präzisen alltagsbeobachtungen lebt, enthalten geschichten eines paradoxen scheiterns oder gelingens. »Und Stille dort« beschreibt die bräuche auf einem heutigen friedhof, die meist eher den interessen der lebenden dienen. je weniger der mensch die ahnen noch als träger einer tradition oder überlieferung braucht, umso unwichtiger werden die toten den lebenden. und was man toten antut, geschieht immer auch lebenden. in »Stifters blaue Schatten« zitiert der autor adalbert stifter, den brockes der prosa, der manchen, während er, gegensinn der literarischen wirkung, andere langweilt, als modern gilt, weil seine detaillierten naturbeschreibungen beim lesen oder hören trunken machen können.
das buch Über Heblichkeiten – Floskeln und andere Ausrutscher / aus den Notizbüchern des Herrn Nipp enthält aphoristische gedanken von haimo hieronymus, die gleichfalls oft auf paradoxien verweisen: »Relativität / Eine Wolke macht noch kein schlechtes Wetter, es sei denn, sie überdeckt das ganze Land.«, »Multipolarität / Zwischen Schwarz und Weiß gibt es noch Grau, und das ist bunt.« zur situation der kunst und des künstlers heißt es: »Künstler / Erfolglos glücklich.«, »Stil / Stil bleibt, Mode vergeht.«, »Alles beliebig oft Kopierbare fasziniert uns, weil sich die Kopie verwandelt und damit gleichzeitig das Original.« und »Wenn die Flüchtigkeit der Schönheit traurig stimmt, so muss die Endlosigkeit des Grauens zur Depression führen.«
hieronymus sucht und hinterfragt das humane, um damit zu ermutigen, wobei sich ein ausgleichendes naturell zeigt: »Mensch / Erst die Fähigkeit, klares Denken mit Anteilnahme zu verknüpfen, macht dich zum wahren Menschen.«, »Folgeerscheinung / Wenn du darauf wartest, geht es selten weiter, geht es aber weiter, warten die anderen auf dich.«, »Freundlichkeit / Zwischen den Stühlen ist immer noch ein Plätzchen zu finden.«, »Autofahrten / Ein intaktes Biotop lässt sich an der Zahl der am Straßenrand liegenden Schmetterlinge erkennen.«
manche der gedanken von haimo hieronymus reflektieren bedigungen eigenständigen denkens: »Neu / Mit dem Kopfchaos beginnt das Neue.« und »Horizonte / Die Schelme blicken ins Dahinter.«, oder verarbeiten seine erfahrungen als lehrer: »Gepflogenheiten / Es ist eine Grausamkeit, Kinder früh zu wecken, zur Legitimation hat unsere Gesellschaft die Schule erfunden.«, »Pädagogik / Nur wer zur Unabhängigkeit erzieht, handelt nachhaltig.«, »Reife / Halbgegorene Gedanken junger Menschen können mit der Hefe der Reflexion zu exquisitem Wein werden.« oder »Anspruch / Die gute Kinderstube zu vergessen, kann als infantil angesehen werden.«
andere aphorismen, die eigentlich keine titel oder überschriften bräuchten, reflektieren menschliche verhaltensweisen insgesamt: »Imperator / Menschen, die sich selbst die Krone aufsetzen, haben ein Persönlichkeitsproblem, Hybris, eine Narrenkappe wäre gesünder.«, »Karneval / Manchmal paart sich die Eitelkeit mit Humor.«, »Politik / Erst wenn wir sicher sind, was wir eigentlich wollen, sollten wir beginnen, Forderungen zu stellen.«, »Sichtweise / Glücklicherweise steckt in jeder Kritik dem Anderen gegenüber auch ein wenig Selbsterkenntnis.« man könnte sogar sagen, jede kritik enthalte etwas von umgelenkter selbstkritik, die projiziert und derart abgewehrt wird. angriffshandlungen bei menschen sind, psychologisch betrachtet, meist unbewußte abwehrhandlungen, zumindest in ihren ursprüngen.
neben aphorismen enthält der band Über Heblichkeiten – Floskeln und andere Ausrutscher / aus den Notizbüchern des Herrn Nipp bilder, die vor allem von strukturen leben. etliche bilden, teils mit farbtupfern, skelette oder skelettteile nach, also strukturelle spuren, oder überreste. so entstehen etwa skelette mit dickem bäuchen. einige skelette scheinen sich sogar zu bewegen. andere skelettteile gehen in bausteine über. knochen sind sozusagen die balken im haus mensch. daneben findet man gesichter mit rippen. oder skelette formen spiralen, in denen sich auch die gedanken bewegen, oder labyrinthe, die höhlen bilden. früher war jeder lebende mensch ein künftiges skelett. heute, im zeitalter der perfekten entsorgung, ist selbst das nicht mehr garantiert.
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Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421