Sarah sitzt an ihrem Schreibtisch und telefoniert mit Kathrin. Sie schaltet endgültig in diese andere ihrer Welten um, bevölkert von Freunden. Von lebendigen: geschwätzig, liebenswürdig, Nerven tötend. Sie hört Kathrin seit fast einer halben Stunde zu.
– „Sarah, ich glaube, ich habe mich diesmal verliebt!“ sagt ihre Freundin.
Kathrins Handlungsbeweggründe zu ergründen, wird Sarah nie müde. Kathrin findet ständig irgendwelche Phantasie erregende männliche Subjekte für ihre Experimente. Mit Leichtigkeit greift sie sich eines aus dem Kontext heraus, beschert es mit selbst gebastelten Wunschprojektionen, schmückt es wie einen Weihnachtsbaum und bewundert glücklich den Weihnachtsschmuck. Wenn die Feiertage vorbei sind, stellt sie häufig fest, dass sie darunter ein vertrocknetes Zweigchen entdeckt. Sie hat ihre Begeisterungsfähigkeit jedoch nicht verloren. Ihre Unermüdlichkeit, nach dem Glück zu suchen, ist bewundernswert. Einen sich stets erneuernden Hoffnungsdrang glaubt Sarah bei ihrer Freundin zu spüren. Beneidenswert.
Kathrin kann jeden Tag ins Paradies rein und raus marschieren, als stehe es ihr zur Verfügung. Sarah mag Kathrin wegen dieses unersättlichen Appetits, den sie selbst längst verloren hat. Ihr sind mittlerweile nicht nur die Trauben auf Erden sauer, sondern auch die Äpfel deshimmlischen Edens.
Sie hört Kathrin zu und sucht auf dem überfüllten Schreibtisch nach den Zigaretten. Den Mann kannte Kathrin vom Ansehen seit einigen Jahren, hätte ihn aber nie richtig gesehen bis gestern. Wie außergewöhnlich! Sie seien sich zufällig in der Stadt vormittags begegnet und hätten sich gar nicht mehr trennen können!
– „Und es war gar nicht so kalt, nein, wirklich nicht“, erzählt Kathrin voller Inbrunst noch einmal von vorne. „Es gab etwas Mildes in der Luft da am Rhein, als wäre es Frühherbst und nicht Februar, und die Möwen flogen tief wie an der Nordsee. Wir konnten nicht aufhören zu reden. Wir hatten uns so viel zu erzählen, als wären wir gute Freunde gewesen. Er tat ein wenig geheimnisvoll, sicher, aber schließlich erzählte er mir von seinen Reisen, weißt du, er verreist sehr oft, ich vermute, er ist so eine Art Vertreter oder so etwas, und es war wunderbar, Sarah, wunderbar!“
Sarah reckt sich auf ihrem Stuhl, schiebt ungeduldig ihr Körpergewicht von einer Hinternbacke auf die andere, wippt mit dem angewinkelten Bein, schwingt die Sohle auf und ab, auf und ab. Ihre Finger trommeln auf dem Zigarettenpäckchen. Trostlos und vergeblich ist der Versuch, irgend etwas auf diesem Schreibtisch zu finden, zum Beispiel das Feuerzeug, das noch gestern oder gar vor einigen Minuten verdammt noch mal ganz brav und schön sichtbar oben drauf auf den Bergen von Papier lag.
Wo zum Teufel ist es?
Über den Tisch hinweg zischt Sarahs Blick zum Fenster. Und das Fenster blökt blöde zurück. Es kotzt stumpfsinnigen Schlamm, ertränkt das Auge. Verhöhnt seine Daseinsberechtigung: das Sehen. Es gibt nichts zu sehen! Nichts, außer dieser nichts aussagenden, abstoßenden grauen Schmiere! Dieses graue Nichts zerspleißt den Augapfel! Ohne Rasiermesser! Kein Hund da! Nichts da, außer grauen Lichts!
Sarah hasst dieses Wetter.
Kathrin will jetzt wissen, was sie, Sarah, über all das denke.
Ob der Mann sich auch in sie verliebt habe?
Was sagen? Sarah kann Kathrin nicht sagen, was sie wirklich denkt. Lügen kann sie auch nicht. Slalom in der Normalwelt.
– „Kathrin, ich weiß es nicht!“
– „Ich will bloß eine Meinung, Sarah!“
Ihre Meinung kann Sarah auf gar keinen Fall Kathrin sagen.
Sie glaubt an die Liebe zwischen Frau und Mann nicht, sie glaubt schon lange nicht mehr an nennenswerte Gefühle zwischen Frau und Mann, wenn sie miteinander geschlafen haben.
Ihre Meinung ist ziemlich beleidigend. Für beide Beteiligte.
Dieses männliche Geschöpf musste vermutlich seinen Hodensack leeren, es hat sich bei ihm etwas angestaut, er kann nichts dafür. Es liegt in seiner Natur. Der Akt der Entleerung hat üblicherweise nicht im Geringsten etwas mit dem zu diesem Zwecke ausfindig gemachten, willigen Gefäß zu tun.
Und das weibliche Gefäß ist williger, sich füllen zu lassen, als die Qualität der Füllung selbst zu überprüfen, weil wenn leer, es sich mit keiner anderen Füllung zu füllen weiß. Das liegt wiederum in dessen Natur. Man soll es dabei lassen und nicht fabulieren.
Sarah kann Kathrin das nicht sagen.
Was sie aber mit Sicherheit kann, ist zu erkennen, dass Kathrin weder heute noch sonst irgendwann sich als austauschbares Gefäß empfunden hat, umso weniger eines für den zufälligen Ausguss. Für Kathrin ist sie selbst weder austauschbar, noch vollziehe sich zufällig eine in ihr geschehende Ejakulation. Für Kathrin ist nichts zufällig, glaubt Sarah zu wissen. Alles im Leben ihrer Freundin ist von Bedeutung.
Kathrin ist voll gutmütiger Zuversicht. Sie erwartet vertrauensvoll, dass die Welt um sie herum ihr genehm geschieht. Es ist ihre Begabung. Sie wertet das Alltägliche nicht ab, hat keine Berufung zum Zynismus und keinen Ehrgeiz zur Verachtung. Noch zur Selbsterniedrigung. Auch keinen Abstand dazu, wenn sie diesen Neigungen bei anderen begegnet. Keine Nachsicht. Das konnte Sarah ziemlich oft feststellen, seitdem sie befreundet sind.
Sie will Kathrin nicht ärgern, liefert ganz brav Binsenweisheiten, die nicht lügen. Man müsse abwarten und sehen, ob sich alles so entwickle, wie erhofft usw.
– „Und wie war dein Tag gestern?“ unterbricht Kathrin ein wenig gereizt. „Wie läuft es mit Olivier?“
– „Ich habe gestern mit Olivier Schluss gemacht“, erwidert Sarah. „Besser gesagt, heute Nacht… Wie? Nein, es ist besser so… Was soll er schon gesagt haben? Er hat nicht protestiert, wenn du das meinst… Es gab zwischen uns keine Verliebtheit. Wir haben nur gut miteinander gefickt… Ja, ich weiß, es kann nicht immer nur Sex sein, aber diesmal war es auch doch wieder nur das…“
Sarah mag jetzt nicht darüber diskutieren. Die Vorträge ihrer Freundin will sie sich nicht anhören. Kathrins Vorstellungen helfen ihr nicht, erfüllen in ihrer Welt keinen Zweck.
Hier bricht zuweilen das Nichts hinein und pustet Todesatem, der jede Form der Gültigkeit abschafft. Es gibt keine Gnade. Der Tod ist eine Möglichkeit, hatte Virginia Woolf für sich entschieden. Ich selbst lungere noch diesseits, denkt Sarah. Und hier gibt es für sie kein Paradies, das man betreten dürfte. Hier gibt es keinen Retter und keine Rettung. Wohl aber das Feuerzeug! Es liegt nicht auf dem Tisch, sondern unter dem Tisch. Wie es dort gelandet ist, weiß es nur selbst.
Die kleinen Dinge führen einen hartnäckigen Krieg. Eines Tages machen sie uns platt. Sarah ist jetzt endgültig genervt.
– „Kathrin, ich muss Schluss machen. Ich hab noch für morgen zu tun… Ja, ich muss ein Interview vorbereiten. Lass uns morgen miteinander telefonieren… Ja, bis dann“, sagt Sarah und legt auf.
* * *
Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.
Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997
Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).
Weiterführend →
Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.