Kellerleiche

Der öffentliche Nahverkehr ist immer wieder eine Einladung zum Studium gesellschaftlicher Strukturen. Zogen die Anthropologen vor Jahren in den jetzt nicht mehr vorhandenen Urwald, um noch nicht beschriebene Kulturen zu entdecken und zu erforschen, so finden sie sich heute in den Metros, den U- und S-Bahnen dieser Welt, rasen von einer Haltestation zur nächsten, heimlich bewaffnet mit Diktiergeräten und modernen Kameras. Dabei fallen sie niemandem auf. Ein Paradigmenwechsel hat eingesetzt. Braucht es heute keiner Geheimdienstler mehr, weil diese fiese Tätigkeit jetzt von den sozialen Netzwerken übernommen wird – und das sogar viel effektiver, als dies jene zu leisten imstande waren. Ja, die meisten Klienten geben so viel über ihr Privatleben preis, dass man schon von privatem Exhibitionismus sprechen kann. Es gibt so etwas, wie die innere Entkleidung. Also haben die alten BND- und Stasispitzel jetzt auf Anthropologie umgeschult und nutzen ihre Techniken des Abhörens in den Bussen und Bahnen dieser Welt. Und wie beim Walfang gilt hier: Nur zu wissenschaftlichen Zwecken! Die Erkenntnisse dabei sind schon fast unglaublich, denn in einer faktisch multikulturell geprägten Gesellschaft müssen besagte Wissenschaftler nicht nur inhaltlich bewandert sein, sondern auch noch eine Vielzahl an Fremdsprachen beherrschen. Idiome und Dialekte sollen hier gar keine Erwähnung finden, vielmehr aber jene Kauderwelschsprachen, Kanaksprak oder Soziolekte genannt, die der Einfachheit halber zwischen Her- und Abkunftssprache mischen. So muss sich der Sprecher oder die Zuhörerin nicht auf einen Schlag alle Wörter lernen, sondern kann in allen Situationen auf die Homebase zurückgreifen. Dem unbedarften Zuhörer springen dann aus dem Türkischen Wörter entgegen, wie Benzinpreiserhöhung oder Champions-League-Finale. Neben den sprachwissenschaftlichen Entdeckungen des gestalteten Pluralismus wurden dabei auch die Sprechstrukturen eingehend untersucht.

Herr Nipp hat sich in den Monaten der inhaltlichen Abstinenz zu einem Hobbyanthropologen entwickelt. All das, was ihn früher überhaupt nicht interessiert hat, zum Beispiel die Gerüchte, ihre Entstehung und Verbreitung, können ihn jetzt faszinieren. In einer Gesellschaft, die endlich entdeckt hat, dass die Fortbewegung in Großstädten mit dem ÖPNV abgekürzten öffentlichen Personennahverkehr viel einfacher ist, als mit einem auch noch unverhältnismäßig teuren Auto, treffen sich in den Fahrwaggons Menschen aus allen Schichten. Die Statussymbole haben gewechselt. Man legt Wert auf das richtige Smartphone und hochwertige Schuhe, nicht mehr auf das Zeichen auf der Motorhaube. Das braucht man nur, wenn es in die autofreie Provinz oder in den alpinen Urlaub geht. Und für diese Wochen ist das Leihen eines fahrbaren Untersatzes insgesamt billiger. Da darf es dann auch mal der 500er sein. Man bedenke nur den Wertverlust.

Herr Nipp sitzt seit kurzem oft tagelang im Bus, fährt von einer Station zur nächsten und hört den Menschen zu, wenn er denn die Sprache versteht. Seltsamerweise fühlt sich niemand belästigt oder beobachtet in diesen Räumen der Öffentlichkeit. Die Sprache, welche früher zum intimen Plausch in der Lautstärke gesenkt wurde, ist heute für jeden klar vernehmbar. Wenn jeder glaubt, die Leute hinter oder vor mir können mich eh nicht verstehen, dann gibt es auch nichts zu verbergen.

Eine sehr schöne Aufnahme gelingt ihm an diesem Tag: „…und habe die beiden… getroffen…“ „Und?“ „…saßen dort herum ….mit den anderen Leuten…du weißt schon….“ „Und?“ „Der Neue stimmt nicht.“ „He?“ „Der hat eine Leiche im Keller. Wetten, das geht nicht gut.“ „Wieso?“ „Na, der ist nicht echt, die ganze Art, das geht überhaupt nicht. Hat meine Frau auch gesagt.“ „Hm?“ „Naja, der hat was zu verbergen, das ist schon mal ganz klar. Das wird nicht gut gehen mit den Beiden.“ „Die Beziehung wird ungebremst vor die Wand gefahren.“ „Das wäre schade.“ „Na, die hat es nicht anders verdient!“

Einige Stunden später zwei andere Mitfahrer, das gleiche Gespräch. Gleiche Worte oder Inhalte, andere Leute. Erst abends findet Herr Nipp heraus, dass es um einen Trainer einer Fußballmannschaft geht.

 

 

***

Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Zudem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Haimo Hieronymus präsentiert zudem Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

In 2018 kommt etwas Gewichtiges auf Sie zu. Zyklop I ist mit einer partikularen Sichtweise eine ebenso wunderbare, wie irritierende Erfahrung. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen, denn Haimo Hieronymus will unbestreitbar Schönheit schaffen und er will hier nicht weniger als von allem erzählen: Vom Großen, Ganzen, vom Kosmos, von der Schöpfung. Gar vom Leben selbst, indem er in die Vollen greift, ohne Angst, etwas falsch zu machen. Kunst erkennt man daran, daß sie das Ewige sichtbar macht, Bilder werden zu einem idealen Erkenntnismedium. Zyklop I ist ein sakrales Kunstprojekt ohne religiöse Dogmen.

Zur Subscription freigegeben: Zyklop I, Katalog mit Fotos von Haimo Hieronymus, Edition Das Labor. Erscheint im September 2018 in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren. Freunde und Förderer werden im Katalog mit einer Würdigung dokumentiert.

Anfragen zu Zyklop I und den bibliophilen Kostbarkeiten über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.