Tabula Rasa

 

Eine Flugschrift über die polnische Krise, die seit der Regierungsübernahme durch die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Jahr 2015 weite Kreise der polnischen Bevölkerung und die europäische demokratische Öffentlichkeit beunruhigt – ein solches publizistisches Dokument verdient besondere Aufmerksamkeit. Zwölf Beiträge aus den Bereichen Politologie, Jura, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Zeitgeschichte und Literaturwissenschaft widmen sich dem Wandel der polnischen Innenpolitik, der nach den Wahlen im Sommer 2015 einsetzte und seitdem die polnischen Bevölkerung irritiert, empört und begeistert. Wie kann sich ein Umschwung durchsetzen, wenn sich nur 5,7 Millionen von 30,7 Millionen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, also rund 18 %, für die rechtsnationale Partei PiS entschieden haben, fragt sich Andreas Rostek. Wie ist es möglich, dass rund zehn Jahre nach der in weiten Kreisen begeistert begrüßten Aufnahme Polen in die EU der Chef der Regierungspartei, Jarosław Kaczyński, die Losung „Europa ist eine Gefahr“ verkündet? Was für ein tiefer Riss geht durch Polen, wenn die ehemalige Ministerpräsidentin Beata Szydło in Brüssel gegen die EU-Ratspräsidentschaft von Donald Tusk, dem ehemaligen Vorsitzender der polnischen Bürgerplattform PO, stimmt? Wie weit geht die derzeitige Regierungspartei mit ihren radikalen Eingriffen in die strukturellen Veränderungen des Justizapparates? Warum konzentriert sich der Widerstand gegen diese von nationalistischen Interessen gerichtete Politik vornehmlich auf die mittlere und ältere Generation, während die junge und jüngere Generation sich eher nach rechts orientiert? Wie weit reichen operierender Umbau der jüngeren Geschichtsschreibung und dessen Realisierung in den Schulbüchern für die Grundschulen und Gymnasien? Es sind Problemfelder, die sich in den vorliegenden Aufsätzen polnischer und deutscher Autorinnen und Autoren bereits in deren Überschriften niederschlagen: Sprache der verbrannten Erde, De-Europäisierung, Postkommunistischer Populismus, Die Mitte steht rechts, Fremdenfeindlichkeit in Polen, Die Enttäuschung der Jungen, Spätmoderne und nicht zuletzt Kaczykistan. Mit diesem Kürzel für die Herrschaft des „Präses“ der PiS, Jaroslaw Kaczynski, fixiert Konrad Schuller, Korrespondent der FAZ für Polen und die Ukraine, die schillernde Persönlichkeit des ideologischen Impulsgebers der Rechtsnationalen. Sie bedient sich, so Schuller, zweier politischer Strategien. Mit dem Verweis auf UB-kistan, der einstigen kommunistischen Überwachungsagentur UB, diffamiert Jarosław Kaczyński die politischen Repräsentanten der PO (Bürgerplattform) wie auch die ehemaligen Solidarnośc-Mitglieder des linken Flügels- als angebliche frühere kommunistische Mitläufer. Ihnen stellt er die Partei-Mitglieder der PiS als aufrechte Verteidiger nationaler Interessen gegenüber.

Im Mittelpunkt der Flugschrift steht die geplante Reform des polnischen Justizwesens auf dem Wege zu einem Obrigkeitsstaat. Der Warschauer Politologe Klaus Bachmann verweist darauf, dass mit der Abschaffung des Verfassungsgerichts bereits ein entscheidender Schritt in Richtung eines willkürlichen Umbaus des Justizwesens erreicht wurde, dem nunmehr die Umgestaltung des Obersten Gerichts folgen werde. Mit der Anbindung dieses Amtes an den derzeitigen Präsidenten Andrzej Duda bediene sich die herrschende Regierungspartei eines in ihren Händen funktionierenden Gerichtswesens, das im Widerspruch zu demokratischen Grundsätzen der Verfassung stehe. Mit dieser Novellierung erfolge ein Zugriff auf das von Parteienherrschaft unabhängige Richteramt, eine bewusste Verletzung von Verfassungsgrundsätzen, für welche das EU-Mitglied Polen bereits mehrmals von der Brüsseler Zentrale kritisiert worden ist.

Doch aus den Reihen der demokratischen Öffentlichkeit Polens kommt trotz zahlreicher Protestdemonstrationen, wie Chris Niedenthal, ein international angesehener Fotograf, mit seinen stimmungsgeladenen Schwarz-Weiß-Bildern in der Flugschrift zeigt, ein nicht ausreichender Widerstand. Das verdeutlichen die Aktivitätspotenziale der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger: 50 % der potenziellen Wähler nimmt nicht an den Wahlen teil, nur 5 % der Bevölkerung protestiert gegen den Umbau von politischen Institutionen und Rechtsinstanzen wie auch gegen die Änderung von Bildungsinhalten in den Schulen.

Über die Ursachen für das mangelnde Interesse der polnischen Bevölkerung an der Durchsetzung demokratischer Interessen referiert die Journalistin und Kolumnistin Kaja Puto. Sie verweist auf den seit dem 19. Jahrhundert schwelenden Konflikt zwischen den Romantikern als Bewahrer nationaler Belange und den Positivisten, die stets den europäischen Denkmodellen zugewandt waren. Ungeachtet der konkreten politischen und wirtschaftlichen Erfahrungen von Millionen Arbeitern und kleinen Angestellten in der Gewerkschaftsbewegung der Solidarnosc habe sich diese tiefe Kluft während der reformerischen Umwälzung nach 1989 – ungeachtet der Europa-orientierten Zwischenphase zwischen 2004 und 2014 – verstärkt. Diese Position vertritt auch Jan Pallokat in seinem Essay „Die Mitte steht rechts“ wie auch Magdalena Gwóźdź-Pallokat /Magdalena Karpińska mit ihren Thesen über die Fremdenfeindlichkeit, die sich erst nach 2015 verstärkt habe und sich nunmehr in einer manifesten, durch die Presse verstärkten feindlichen Einstellung gegenüber Flüchtlingen äußere. Besonders besorgniserregend sei der mentale Wandel der jungen ländlichen Bevölkerung gegenüber irgendwelchen muslimischen Migranten, wie Pallokat aufgrund von empirischen Recherchen festgestellt hat.

Unter der Überschrift „Autodafés in Zeiten der Polarisierung. Postkommunistischer Populismus in Polen“ stellen sich Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz, beide Herausgeber der Zeitschrift Kultura liberalna, die Frage, ob Polen nach 2015 den Pfad der Demokratie verlassen habe. Sie bezeichnen es als defekte Demokratie, weil das Justizwesen in Polen durch die Regierung vereinnahmt und die Pressefreiheit eingeschränkt worden sei. Mehr noch: Die regierende PiS schaffe – auch unter Rückgriff auf die II. Republik der Zwischenkriegszeit – ein neues Staatsmodell, das sich gegen die Balcerowicz-Reform der 1990er Jahre richte und auf der Grundlage des Morawiecki-Plans die Kluft zwischen Globalisten und Nationalisten vertiefe. Wigura und Kuisz kreiden aber auch der 2015 abgewählten Tusk-Regierung schwerwiegende Fehler an, weil diese keine Arbeitsmarktreform durchgeführt habe und die starke Gruppe der bäuerlichen Wähler nicht in ihre Reformbemühungen einbezogen wurde. In dieses Vakuum ist die rechtskonservative Regierung vorgestoßen, indem die unteren Schichten der polnischen Gesellschaft mit finanziellen Anreizen (Kindergeld, ländliche Förderprogramme) belohnt wurden.

Polen ist heute, so das Fazit der beiden Kolumnisten, Europas Laboratorium für den postkommunistischen Populismus geworden. In diesem politischen Raum entwirft der erzkatholische Puppenspieler Jarosław Kaczyński als Erbfolger seines Bruders Lech einen Staat als theologisch zu beschreibende Entität. Mit dieser These operiert auch der Schriftsteller Jacek Dehmel, der in seinem Essay „Sprache der verbrannten Erde“ auf den Sprachwandel in der PiS bereits seit 2005 aufmerksam macht. Die rechtskonservative Partei habe nicht nur gegen die ehemaligen angeblichen kommunistischen Mitläufer gehetzt, sondern auch gegen die EU Stimmung gemacht, ohne die polnische Mitgliedschaft in Frage zu stellen. Doch die De-Europäisierung der PiS (vgl. Jacek Buras‘ Essay) bewege sich unter der Losung ‚polnische Werte sind durch die Politik supranationaler Institutionen bedroht‘ in einem eigenwilligen Zickzack-Kurs. Die Regierungspartei wettere gegen die deutsche Hegemonie, die Überregulierung wie auch gegen die Brüsseler Machtfülle, setze auf einen US-amerikanischen militärischen Schutz bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber der NATO als Partner, lehne den westlichen Liberalismus ab und stelle zugleich die nationalpolnische Politik als Verkörperung wahrer Werte dar. Doch Polens „souveränistischer backlash“ habe das Land in eine eigentümliche Lage gebracht. Es wolle unter Nutzung der EU-Fonds eine Renationalisierung seiner Wirtschaft erreichen. Ebenso widersprüchlich sei die im Umbruch befindliche polnische Außenpolitik. Ihre vielschichtige Bewertung auf der Grundlage von zahlreichen in dem Essay benutzten polnischen Quellen kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht kommentiert werden. Ihre Umrisse zeichnen sich, wie der Zeithistoriker Krzysztof Ruchniewicz in seinem Beitrag zur Geschichtspolitik der PiS argumentiert, in einer Instrumentalisierung von europäischer Geschichte ab, die an die Stelle der Suche und gemeinsamen Aufarbeitung von Kapitalverbrechen und Schuldzuweisung eine manipulative Forderung nach finanzieller Entschädigung setzt.

Den krönenden Abschluss des Sammelbandes, der eine tiefgründige und umfangreiche Analyse des politischen Wandels in Polen darstellt, bildet der Essay des renommierten Literaturkritikers Przemysław Czapliński. Seine Thesen, wie der allmähliche Energieverlust der polnischen Moderne, die brüchig werdenden emotionalen Grundlagen der Moderne wie Stolz und Scham und die Herausbildung starker unkontrollierter Emotionen wie Wut, weist er an literarischen Protagonisten nach, die in Aufsehen erregenden Romanen der vergangenen fünfzehn Jahre aufgetreten sind. Sie verkörpern eine eigenwillige Mischung aus Rückschrittlichkeit und widerwilliger Anpassung an erzwungene kollektive Identitäten. Ist der mondlose polnische Himmel, wie es in dem Gedicht von Andrzej Kopacki heißt, „an den Rändern verblasst. Tags / Am Horizont dunkles, zerfranstes / Irgendwas“? Marschieren die erzkatholischen Romantiker mit der Chuzpe auf den Lippen, sie würden die polnische Demokratie verkörpern, nunmehr an die Außenbezirke Europas und zurück in die kommunistische Vergangenheit? Gibt das Cover des Sammelbands mit den Konturen des Warschauer Kulturpalasts bereits die Zielrichtung vor? Ein Schelm, der Böses dabei denkt!

 

 

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POLSKA first. Über die polnische Krise. Hg. von Andreas Rostek. Berlin (Edition. fotoTAPETA_Flugschrift) 2018