Eine Annäherung an das Werk Helmut Schweizers

  1. Es wäre schön, wenn die Dinge immer so einfach wären, wie manche Auguren sie gerne hätten. So fühlen sich Wirtschaftsweise und Trendforscher häufig berufen, finale Aussagen über mögliche zukünftige Entwicklungen zu treffen – dabei sind solche Prognosen reine Vogelschau und Kaffeesatzleserei. Tugendhafte Intentionen können z.B. Konsequenzen zeitigen, die bestehenden guten Absichten vollends zuwiderlaufen – Robert K. Merton nannte dies das ‚Gesetz der unbeabsichtigten Folgen’. Moralisch verwerfliche Intentionen wiederum, so das Mandeville’sche Paradox, können äußerst fruchtbare Auswirkungen haben. Und kommt es zu unzähligen gleichgerichteten intentionalen Handlungen, so ist ihr konkretes kollektives Resultat eine kausale Folge, die weder intendiert noch wirklich vorhersehbar ist – es ist dies die unsichtbare Hand von Adam Smith, die dem Linguisten Rudi Keller die Blaupause für eine verblüffend simple und zudem plausible Erklärung des Sprachwandels lieferte.

Solange wir uns im überschaubaren Rahmen kleiner Gruppen bewegen, sind dies theoretische Überlegungen, deren lebenspraktische Relevanz sich in Grenzen hält. Zumal dann, wenn die Intentionen auf wissenschaftliche Erkenntnisse oder technische Möglichkeiten rekurrieren, deren Potenzial ebenso überschaubar ist. Was aber, wenn sich die Dimensionen grundlegend ändern?

In seinem 1914 erschienenen, geradezu prophetischen Roman Befreite Welt (The World Set Free) entwickelt der britische Autor H. G. Wells ein dystopisches Szenario. Er beschreibt die Entdeckung einer Energiequelle von titanischem Format: der Kernenergie. Sie läutet in seinem Roman nicht nur das Ende des Kohle- und Stahlzeitalters ein, das dabei als kausales kollektives Resultat gleichgerichteter intentionaler Handlungen einen nicht-intendierten globalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur­wandel auslöst, der den größten Teil der Menschheit ins soziale Abseits befördert – sie bringt ebenso ungewollt, quasi als Abfallprodukt, auch eine Waffe apokalyptischen Ausmaßes hervor: die Atombombe.

Was möglich ist, das wissen wir nur zu gut aus der Geschichte, wird irgendwann auch wahrscheinlich: Die Waffe ist in der Welt. Also ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie auch zum Einsatz kommt und die Katastrophe über die Menschheit hereinbricht: Als die Welt in Wells’ Dystopie ihrer nuklearen Vernichtung entgegen sieht, ist diese, nüchtern betrachtet, eben nur wahrscheinliches, aber nicht-intendiertes Resultat intentionaler Handlungen, wurde doch die Kernenergie von den Menschen in die Welt gesetzt, um sie besser zu machen, nicht aber, um sie zu zerstören.

Das ist aber nun einmal das Schicksal großer Potenziale: Sie sind nicht beherrschbar. Irgendwann läuft etwas schief. Wann auch immer. Und sei es in ferner Zukunft: Die Technik läuft nicht ewig störungsfrei – und der Mensch neigt dazu, Möglichkeiten nach seinem Gutdünken auszunutzen. Dann muss es noch nicht einmal, wie bei Wells, durch Menschenhand zum Äußersten kommen. Da würde in Friedenszeiten auch schon eine profane, rein technisch bedingte Kernschmelze im maroden belgischen Kraftwerk Tihange bei Aachen ausreichen, um diese Gefahr anhand einer Kontaminierung Nordrhein-Westfalens durch hochradioaktiven Niederschlag deutlich zu machen.

  1. Im Jahr 1946, dem Geburtsjahr von Helmut Schweizer, war die Welt in hellem Aufruhr. Wells’ Antiutopie war 1945 mit dem Abwurf der ersten Atombombe, Kosename „Little Boy“, Realität geworden. Das Grauen von Hiroshima, dem nur drei Tage später Nagasaki folgen sollte, erschütterte, gemeinsam mit den ersten Bildern aus den befreiten deutschen Vernichtungslagern, das Weltgewissen. Die Büchse der Pandora war geöffnet, nichts war mehr wie vorher.

Die Menschen waren verunsichert. Orientierungslos. Hin- und hergerissen. Die alten Werte waren nichts mehr wert, die Welt schien vollends Kopf zu stehen. Alte Allianzen brachen auseinander, neue wurden geschmiedet. Wer gestern Freund war, war heute Feind und vice versa. Kolonialreiche zerfielen zunehmend, der schwarze Kontinent erwachte, eine neue kommunistische Großmacht entstand. Der kalte Krieg war mit der Entwicklung der sowjetischen Atombombe von einem filigranen Gleichgewicht des Schreckens geprägt, das jederzeit zu zerbrechen drohte.

Stand die Menschheit, stand man selbst als Individuum am Abgrund der Geschichte? Wie mit den verwirrenden Ereignissen umgehen? Ignorieren, verdrängen, sich in die innere Emigration zurückziehen? Oder den Aufstand proben und rebellieren? Auch viele Intellektuelle, z.B. Künstler, Philosophen, Psychologen und Soziologen waren in diesen Jahren aufgewühlt und mitgerissen. Sensibilisiert in unzähligen Debatten wollten sie weg vom geist- und verantwortungslosen, kollektiv determinierten Konformismus, weg vom Mann im grauen Flanell (Wilson 1955), dem Heidegger’schen ‚Man’, hin zu einer selbstbestimmten Individualität (Bakewell 2016: 320).

Charlie Parker sprengte mit seinen fiebrigen Bebop-Improvisationen die Stereotypen des Swing. George Orwells dystopischer Roman 1984 zeichnete 1949 das düstere Bild eines totalitären Überwachungsstaats. Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin schrieb aus dem selbstgewählten französischen Exil verzweifelt gegen seine doppelte Stigmatisierung als schwarzer Intellektueller und Homosexueller an. Simone de Beauvoir veröffentlichte ihr bahnbrechendes Werk Das andere Geschlecht, in dem sie die Rolle der Frau als zum Objekt degradiertes Wesen durch den sich absolut setzenden Mann anprangert und damit die feministische Debatte des 20. Jahrhunderts entscheidend prägte. Der entfremdete Mensch wurde zum zentralen Thema der Psychotherapie, die auf Basis existenzialistischer Ideen neue Analysekonzepte entwickelte. James Dean gab der um Orientierung ringenden Silent Generation 1955 in Rebel without a Cause ein Gesicht. Und Hannah Arendt veröffentlichte 1963 ihr Buch Eichmann in Jerusalem, in dem sie den autoritätshörigen, seiner Individualität entledigten Bürokraten eindringlich als die „Banalität des Bösen“ kennzeichnete.

  1. Martin Heidegger referierte 1953 über Die Frage nach der Technik (Heidegger 2000: 7-36). Dabei warnte ‚der kleine Zauberer von Meßkirch’, wie Karl Löwith ihn nannte, vor einer zunehmend utilitaristisch geprägten Welt, die sich einer schonungslosen ‚Vernutzung’ der natürlichen Ressourcen schuldig macht. Die moderne Technik betrachtet alles, so Heidegger, unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Ihr Erfolg sowie der ihr innewohnende Herrschaftscharakter perpetuiert diese Sicht der Dinge, verabsolutiert sie und überformt damit letztlich alle anderen Formen des Weltverständnisses. In der Folge dominiert die technische Weltauffassung und wird so, in Heideggers Terminologie, zum ‚Gestell’.

Der Mensch sieht die Natur dann allein als bloße Ressource. Wird sie aber nur noch unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Verwertbarkeit betrachtet, verkommt sie, so Heidegger, zum ‚Bestand’, den es lediglich zu erschließen und zu verarbeiten gilt. Die eigene und damit eigentliche Bedeutung der Dinge, d.h. diejenige, die Natur ohne die Zuschreibung durch den Menschen hat – eben die nicht durch Nützlichkeit, Verwertbarkeit oder Funktionalität geprägte – ignoriert der Mensch. Er macht sich damit schuldig, ist er doch nicht Nabel der Welt, sondern nur sterblicher Gast im weltlichen ‚Geviert’, in seiner Lebenswelt, die er zu schonen hat. Stattdessen wähnt sich der Mensch im Besitz der Lizenz zur technischen Beherrschung und Verfügbarmachung der Welt: „Der Mensch ist auf dem Sprunge, sich auf das Ganze der Erde und ihrer Atmosphäre zu stürzen, das verborgene Walten der Natur in der Form von Kräften an sich zu reißen und den Geschichtsgang dem Planen und Ordnen einer Erdregierung zu unterwerfen.“ (Heidegger 2003: 372)

Dumm nur, dass der Mensch im unkritischen Umgang mit der Technik die große Gefahr nicht erkennt, die von ihr ausgeht: Sie hat allein die Sicherung ihrer ziellosen Möglichkeiten zum Ziel. Der Mensch wird entmachtet und endet knechtisch als ‚Besteller des Bestandes’, als kleines Rädchen im Getriebe eines weltumspannenden technischen Prozesses, als bloßes ‚Menschenmaterial’. Der Mensch als Ressource: Das Ideal eines unabhängigen Denkens in kritischer Selbstverantwortung wäre damit ad acta gelegt.

Auch treibt Heidegger die Sorge um, so 1969 in einem ZDF-Gespräch mit Richard Wisser, „dass wir in absehbarer Zeit im Stande sind, den Menschen so zu machen, d. h. rein seinem organischen Wesen nach so zu konstruieren, wie man ihn braucht.“ (Heidegger 1988: 25)  Und vor der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt warnt er eindringlich: Mit der Verwüstung der Erde durch die globalen technischen Machtmittel verkommt nicht allein der Mensch, sondern auch die Natur zur reinen Ressource. Sie hat dann nur noch einen Wert als Mittel zum Zweck, mit deren Verlust derjenige der Heimat einhergeht.

  1. Wie kann hier ein Umdenken, eine Umkehr erfolgen? Die kritische Auseinandersetzung mit der Technik muss nach Heidegger „in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits doch von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.“ (Heidegger 2000: 36) Damit zeige sich die Kunst ursprünglich als ‚techne’, ist aber, im Gegensatz zu Wissenschaft und Technik, nicht durch das Prinzip der Verwertbarkeit gekennzeichnet. Ein Kunstwerk wird nicht, so Heidegger, zu einem bestimmten Zweck angefertigt. Es kann nicht benutzt werden. In ihm leuchtet die Welt als Bedeutungsganzheit auf und kann uns so einen anderen, befreiten Weg zur Welt und zur Wahrheit aufzeigen, der sich nicht aus der normierten Weltsicht der Zweckbestimmung, Nutzenorientierung und Verfügbarkeit ableitet.

Wir sind immer schon Teil der Lebenswelt. Wie wir denken, wie wir handeln, was wir sind, ist durch unser Geworfensein in das soziale, ethnische, kulturelle oder religiöse Geflecht kontextuell bestimmt. Aber jede Lebenswelt erfährt zudem in jedem Menschen ihre je individuelle Ausprägung. Mehr noch: Jeder Mensch vermag diese Ausprägung in gewissem Rahmen intentional zu beeinflussen. Denn auch wenn, so Heidegger, das ‚Dasein’ dazu tendiert, unter die Herrschaft des unpersönlichen ‚Man’ zu fallen: Wir sind dazu befähigt und aufgerufen, wir selbst zu sein. Selbstständig zu denken und zu handeln. Selbstverantwortlich Entscheidungen zu treffen und unsere Authentizität zu wahren.

5. In Helmut Schweizers Werk nimmt der von Heidegger derart angemahnte kritische Geist seiner Zeit, feinnervig verinnerlicht in synchron verlaufender Adoleszenz, eine ganz eigene, individuelle Gestalt an. Bereits früh für die existenziellen Gefahren und Gefährdungen moderner Technik sensibilisiert, nahm Helmut Schweizer sich die künstlerische und intellektuelle Freiheit, einen Weg zu gehen, der etwas vom alten Geist der von Heidegger beschriebenen ‚techne’ atmet: In seinem Werk spielt er auf die vom kleinen Zauberer von Meßkirch bezeichnete Wesensverwandtschaft von Kunst, Wissenschaft und Technik in dem Sinne an, dass er nicht mit klassischen Materialien arbeitet, sondern sich im Kosmos der Wissenschaft und Technik bewegt, sich bewusst nicht davon trennt – und virtuos mit dieser Verwandtschaft spielt. Adaptiert mit größtmöglicher Sachlichkeit, Sorgfalt und Präzision die Methodik von Wissenschaft und Technik. Konterkariert die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, indem er seine Kunst als Wissenschaft aufscheinen lässt: Er tut so, als ginge er wissenschaftlich vor, spielt mit ihren Mechanismen und vereinnahmt ihren Wahrheitsanspruch mit frecher, subversiver Geste.

In Helmut Schweizers Kosmos setzt Erkennen Denken voraus, das ihm gleichzeitig Eingriff in Fremdes bedeutet. Will ich Natur begreifen, muss ich, so Schweizer, eingreifen, angreifen, zerstören. Dabei ist ihm Natur nicht Gegenstand der Darstellung, sondern unmittelbares Medium des Eingriffs. Er entdeckt, entblättert, macht damit sichtbar, erkennbar und verstehbar. Er bricht Tabus, indem er gegen ungeschriebene Spielregeln des Umgangs mit Natur verstößt. Und erzwingt so in einem handgreiflichen Akt Erkenntnisgewinn. Provoziert eine neue Sicht der Dinge, macht uns sensibler im Umgang mit der Natur, um uns auch sensibler im Umgang mit uns und anderen zu machen.

Helmut Schweizer geht in seinem experimentellen Habitus den Dingen wie ein Forscher auf den Grund, widmet sein Atelier zum Labor um. Das wissenschaftliche Axiom der Wiederholbarkeit wird ihm, wie in seinen seriellen Arbeiten, den Handlungen, zum künstlerischen Prinzip. Er dokumentiert, trennt, spaltet, isoliert, wertet aus. Greift aggressiv in Prozesse ein. Zerstört das Ursprüngliche. Schafft Erkenntnisse durch Gewaltausübung. Prägt Zeichen. Offenbart. Hinterlässt flüchtige Spuren wie die Einfärbung der Leine, die sich nach seinem Eingriff fluoreszierend durch das nächtliche Hannover schlängelte. Und macht in Zersetzungsprozessen uns den Faktor ‚Zeit’ in seinen Facetten als biologische, kalendarische und biografische Zeit bewusst.

Entstanden aus einer improvisatorischen Kombinatorik verschiedenster Stilelemente und Medien wie Malerei, Film und Fotografie sowie der Verwendung wenig klassischer Materialien wie Glas, Folie, Wasser, Chemikalien, ephemeren, flüchtigen Stoffen vermitteln seine Werke intuitive Erkenntnisse, die die despotisch auftretende Wahrheit der Wissenschaft als eine relative entlarven und dem Betrachter ein anderes Verständnis von sich und der Welt ermöglichen.

  1. Robert Jungk veröffentlichte 1959 seine Faktensammlung aus dem zerstörten Hiroshima Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt. Er schildert in diesem Buch, so der SPIEGEL in seiner damaligen Rezension, „wie die weitsichtige Stadtverwaltung [von Hiroshima, S.O.] schon vierzehn Tage nach dem Abwurf der Atombombe beginnt, mit Wirtschaftswunder-Geschwindigkeit Freudenhäuser zu bauen, die noch zeitig zum Einmarsch der amerikanischen Besatzer fertig werden, oder wie die Ärzte der amerikanischen Kommission zur Prüfung der Atomopfer zwar Tausende von Bürgern untersuchen, sich aber weigern, sie zu behandeln.“

Die apokalyptische Vision von der Zerstörung der Kultur durch die Zivilisation, die uns Helmut Schweizer mit bewundernswert stoischem Nachdruck künstlerisch immer wieder vor Augen führt, bedarf offenbar gar nicht der prometheischen Urgewalt einer nicht beherrschbaren Atomenergie. Es geht auch leiser.

 

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VENEZIANISCHE ELEGIEN [Die Geburt der Tragödie · Atome in der Familie · Partikelgestöber · Endlager] – die Ausstellung von Helmut Schweizer noch bis zum 28. April 2018, in der Galerie Pfab, Düsseldorf-Flingern, Ackerstr.71 (Ecke Birkenstr.) zu sehen.

Literatur:

Bakewell, Sarah (2016): Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails, München: Verlag C.H. Beck.

Heidegger, Martin (2000): Die Frage nach der Technik, in: Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a.M.: Verlag Vittorio Klostermann, S. 7-36.

Heidegger, Martin (2003): Holzwege, Frankfurt a.M.: Verlag Vittorio Klostermann.

Heidegger, Martin/Wisser, Richard (1988): Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser, in: Günther Neske/Emil Kettering (Hrsg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen: Verlag Günther Neske. S. 21-28

Jungk, Robert (1959): Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt, Bern-Stuttgart-Wien: Verlag Alfred Scherz.

Keller, Rudi (1990): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag.

Wells, Herbert George (1914): The World Set Free, London: Macmillan & Co.

Internetquellen: N.N. (1960): Robert Jungk: Strahlen aus der Asche, in: Der Spiegel Nr. 11, online unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43063504.html (Stand 29.6.2017)