Eine Annäherung an Mischa Kuball
1.
Ein Bau wie keiner. Geradezu ein Un-Bau, unterirdische Achsen, schiefe Wände und unklimatisierte Betonschächte2. Eine Schnur-Gerade, die eine zickzack-fache gebrochene Linie, eine Bruchlinie durchschneidet und an den Schnittpunkten eine horizontale Bruchkante bildet, die in die Vertikale strebt. Die Synchronie, die die Diachronie trifft. Hier ist sie platziert, die Leere, engl. void. Eine Leere, die die innere Leere bezeichnet, die es auszufüllen gilt: to fill the void. Die Leer-Stelle der Sprachlosigkeit angesichts des Unfassbaren, die der Künstler Mischa Kuball durch seine radikale Entkernung des Raums, die vollständige Aushöhlung, erst wieder zu dem Raum macht, den der Architekt Daniel Libeskind intendierte: dem hohlen, hohen Raum, der null und nichtig, aber auch frei, also Frei-Raum ist, den wir, wie Hans-Georg Gadamer3 sagte, ausfüllen müssen, indem wir der Evokation des Erzählers folgen. Der Spiel-Raum ist, der der Freiheit der Bewegungals SelbstbewegungRaum zur freien Entfaltung gibt. Eine Bewegung, die durch ihre Bewegung nicht Zwecke und Ziele anstrebt, sondern die Bewegung als Bewegung und damit als Selbstdarstellung des Lebendigseinsmeint. Das unablässig wiederholte zweckfreie Tun, das in seiner Wiederholung Identität schafft, sich Regeln setzt. Eben das stellt einen erstenSchritt auf dem Weg zur menschlichen Kommunikationdar: Das, was dargestellt wird, das Spiel der Kunst, ist nicht allein für sich. Spielen verlangt ein Mitspielen. Der Mitspieler gehört zum Spiel. Es ist ein Mit-tätig-Sein, eine participatio, eine innere Teilnahme an dieser sich wiederholenden Bewegung: Das Werk als Spiel bedeutet gerade nicht Abgeschlossenheit gegenüber dem, der sich ihm zuwendet – es bedeutet im Gegenteil Zuwendung. Mit der inneren Teilnahme bin ich somit konstitutiver Teil des Spiels des Lebens. Des Werks. Der Kunst.
2.
Voids, Bruchkanten der Bruchlinien, sind seismographische Orte (griech. seismos: Erschütterung; graphein: schreiben). Erschütterungen, die ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben sind. Geschrieben von Menschen wie Du und ich. Banale Menschen, die die Chance zur unbestraften Unmenschlichkeit (Günther Anders) schamlos ergriffen und der menschlichen Ergriffenheit einen monströsen Bedeutungswandel mit auf den Weg gaben. Hier in den Voids, den Räumen der Leere, der Stille und Ergriffenheit, ist der durch alle Zeiten horizontal aufragende Ort, in dem es tönt, hallt und wider hallt. Und damit Widerhall (lat. re-sonare) heraus-fordert. Denn in diesem Freiraum, der Spielraum des Spiels ist, bedarf es eines Mitspielers, eines Anderen. Einer anderen Person (lat. per-sonare: durchtönen), die Widerhaller ergo Resonanz-Körper ist. Die die persona, die Maske der Tragödie trägt und die die in der inneren Leere eingeschriebenen Erschütterungen liest. Sie entziffert. Ergreift. Begreift. Damit die Sprachlosigkeit begreifbar macht. Ihr Herr zu werden versucht. Sie ausfüllt, indem sie durch ihre Teilnahme Anteil nimmt und ihren Teil zum Werk beiträgt. Ja, in der Wiederholung gleichsam sowohl ein gemeinsames Werk und damit Identität und Regeln des Miteinanders schafft als auch ein je neues Werk bildet. Und so den Begriff ‚Bildung‘ à la longue in seiner gesellschaftlichen Bedeutung begreift: als kollektives Resultat4 intentionaler individueller Anteilnahmen und Artikulationen, die es im Dialog stets und ständig neu zu justieren gilt.
3.
res·o·nant. Der Titel des Werks von Mischa Kuball ist eine sinn-bildliche Spiegelung der an den seismisch aktiven Bruchkanten der Bruchlinien entstandenen Verwerfungen. Es sind dies Aufbrüche, die die Gerade der Geschichte, die Linearität der Zeit aufbricht. Denn diese Linearität bedeutet Kontinuum alsKontinuum. Das heißt: als reine Dauer. Ununterbrochen. Die in diesem ihrem ureigentlichen Seinszustand für uns nicht begreifbar ist. Erst der Aufbruch bedeutet Gliederung in für uns begreifbare Segmente. Es ist dies die Artikulation (lat. articulare: gliedern), die das Gliedern in Augenblicke (lat. articulo) des Verweilens und damit des Innehaltens imaginiert, um das Unfassbare erfassen zu können. So ist der Aufbruch des Titels von ‚resonant‘ zu res·o·nant ein sinnfälliger Aufbruch zum Verständnis in jeder medialen Verfasstheit. Sei es optisch, akustisch oder reflexiv.
Es definiert zum Beispiel ein Doppelblitz den denkbar kleinsten Zeit-Raum der Gliederung, der Artikulation: den Augen-Blick als Zu-Wendepunkt, in dem Erkenntnis erzielt werden kann. Blitz, Aufladung, Blitz: Licht als Kontinuum erzeugt kein Aufscheinen, nur dauerhaften Schein. Also auch keine Nachbilder: Wo Dauer ist, ist nichts danach. Das Licht muss gegliedert, artikuliert sein, dem Licht muss das Dunkel das Licht das Dunkel folgen.
An anderer Stelle der Leer-Stelle bricht das Licht des Tages durch die Decke, wird aufgegriffen, in ständiger Bewegung an die Decke, Wände, zu Boden geworfen, projiziert. Eine Resonanz des Lichts auf das Licht, dem die Resonanz des Sounds folgt, dem die Resonanz der Besucher, Betrachter, Zuhörer folgt: die optische fordert eine akustische Res/o/nanz heraus, die von Musikern über ein Open Call eingereicht wurde und hier 60 Sekunden lang abgespielt wird, mithin also mitspielt. Und der 30 Sekunden der Stille folgen: ein Aufbruch der Dauer. Sinnbildliche Ermöglichung der Res/o/nanz. Der Widerhall der Mitspieler. Der Aufbruch und damit die Artikulation des Unbegreiflichen, Unfassbaren. Die so erst ein menschliches Verständnis ermöglicht und zugleich den Dialog eröffnet: die reflexive Res/o/nanz der Mitspieler. Die gemeinsame An-Teilnahme als Teil-Sein des Spiels. Des Werks. Des Diskurses. Der wiederum den Aufbruch in die Öffentlichkeit ankündigt: raus aus den Voids des musealen Raums – hinein in die Voids des öffentlichen Raums! Zumal: Berlins. In all seiner historisch belasteten Faktizität.
4.
Mit den Voidsmacht Daniel Libeskind die innere Leere, Reflex auf die physische Leere, die Vertreibung und Vernichtung ist, sicht- und fühlbar. Diese Leere kann nie wieder gefüllt werden, sie entsagt jeder Artikulation. Sie ist die pure Sprachlosigkeit, die von reiner Dauer ist. Durch alle Stockwerke, durch alle Zeiten. Das schlechthin Unfassbare, Unbenennbare, Unbegreifliche. Um so wichtiger ist es, das im gemeinsamen Diskurs zu artikulieren, was an Artikulation nur eben möglich ist. Nur so kann jeder Einzelne, kann die Gemeinschaft als Ganzes im Rahmen des irgendwie Möglichen der Sprachlosigkeit Herr werden5. Denn die Schoa, die Heimsuchung, ist, so lange es Menschen gibt, in ihrer unfassbaren Singularität nicht einmalig. Sie kann (und was kann, das wird), verkleidet, in anderem Gewand, wieder auftreten. Immer wieder. Wieder. Und wieder.
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2018
Weiterführend →
Lesen Sie im Rahmen der public preposition ein Gespräch zwischen Vanessa Joan Müller und Mischa Kuball über öffentliche Beziehungen. Gleichfalls empfehlenswert das Ateliergespräch von Prof. Dr. Matei Chihaia mit Mischa Kuball.
1 Die Licht- und Klanginstallationres·o·nant im Jüdischen Museum Berlin wurde von dem Künstler Mischa Kuball eigens für die neue Ausstellungsfläche im Untergeschoss des Libeskind-Baus geschaffen. Die Ausstellung läuft bis Sommer 2019
2 https://www.jmberlin.de/libeskind-bau
3 Gadamer, Hans-Georg (2012): Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart: Reclam Verlag.
4 Keller, Rudi (42014): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag.
5 Hier scheint etwas von dem ursprünglichen Sinn der Demokratie auf: Wer Herr wird, wird fürderhin nicht beherrscht. Und wo die gesamte Gemeinschaft im kollektiven Verbund individuell Handelnder Herr ist, herrscht keiner über den anderen, ist sie eine Versammlung von Herrn ohne Knechte – ein über sich selbst herrschendes Volk: demos/ kratein.