Stilles Requiem auf die Demokratie

Seit der Bestellung von Leo Trotzki zum Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten im Jahr 1918 machte die Ernennung keines anderen Ministers mehr so viel Furore wie die von Yanis Varoufakis zum griechischen Finanzminister; erstmals seit den Tagen der Oktoberrevolution entzündete im Frühjahr 2015 wieder ein Minister einer linken Regierung die Hoffnungen und Phantasien von Millionen von Menschen. Es war nicht nur die charismatische Person des renommierten, weltgewandten Wirtschaftswissenschaftlers und sein unkonventionelles Auftreten, die zur Hoffnung für das wirtschaftlich am Boden liegendes Land werden sollte: Von seinem Anhängern geradezu als ein Popstar der Ökonomie gefeiert, war der Wirtschaftsprofessor zudem der richtige Mann am richtigen Ort, – und das scheinbar genau zur richtigen Zeit. War (und ist) Griechenland doch durch die von Berlin aufgezwungene Austeritätspolitik schlimmeren sozialen und wirtschaftlichen Verheerungen ausgesetzt, als die meisten Länder sie in den dreißiger Jahren der Weltwirtschaftskrise je erlebt hatten.

Seinen blassen Kontrahenten innerhalb des EU-Ministerrats der Finanzminister mit Schurkengestalten wie sie sich Hollywood in Spielfilmen nicht besser hätte ausdenken können und der Troika (bestehend aus IWF, EZB und EU) war Yanis Varoufakis dabei fachlich nicht nur gewachsen. Zudem hatte er etwas auf seiner Seite, was zu ihrer Überlegenheit beitrug. Der Umstand, dass er eine Sache vertrat, der selbst der US-Präsident mit den Worten seine Referenz nicht verweigern konnte: „Man kann auch eine leere Zitrone nicht immer weiter ausquetschen“. Was allerdings Varoufakis in entscheidender Weise von einem Revolutionär vom Schlage eines Trotzki unterschied, ist, dass dieser an seiner Seite einen Lenin hatte, während jener es nicht mehr als mit einem Alexis Tsipras zu tun hatte.

Was dies konkret bedeutete, steht im Zentrum der Schilderungen des fesselnden Buches über die 161 Tage, die Varoufakis im Amt des griechischen Finanzministers verbrachte. Dabei nimmt die Konfrontation der Athener Linksregierung mit dem EU-Establishment die zentrale Position ein. Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass aus Sicht der Syriza-Regierung das Ziel des EU-Establishments vom ersten Moment ihres Wahlerfolgs darin bestanden habe, den „Athener Frühling“ abzuwürgen. Das probate Mittel dazu stellte die Europäische Zentralbank (EZB) dar, die jederzeit in der Lage ist, dem Banksystem von Mitgliedstaaten Liquidität zu verschaffen oder auch – je nach politischem Willen – zu entziehen; ein Kalkül, das sich letzten Endes als zutreffend erwies. Dem finanzpolitisch eine glaubwürdige Abschreckungsstrategie entgegenzusetzen, sah Varoufakis schon lange vor seinem Eintritt in die Regierung als die zukünftige wichtigste Aufgabe eines griechischen Finanzminister an. Man wird wohl davon ausgehen können, dass kaum jemand sonst die Möglichkeiten Athens besser einschätzen konnte als der Finanz- und Wirtschaftsexperte, in einem Showdown der EU wirkungsvoll Paroli zu bieten. So legt Varoufakis in seinen bis ins Detail gehenden wirtschafts- und finanzpolitischen Analysen großen Wert darauf, dass er für seine ausgearbeiteten Pläne immer wieder die ausdrückliche Zustimmung seines Regierungschefs erhalten habe. Wäre dem nicht so gewesen, legt der Autor dar, hätte er die gestellte Aufgabe erst gar nicht angetreten.

Allerdings blieb es bei Tsipras verbalen Bekundungen, der im Nervenkrieg mit der EU, wie Varoufakis beschreibt, mehr und mehr in sich versank und schließlich aus Angst vor einem Militärputsch buchstäblich über Nacht eine 180-Grad-Wendung vollzog. In der Beschreibung der Hintergründe des unvermittelten Frontwechsels der griechischen Regierung nimmt das Buch die Qualitäten eines wahren Politkrimis an. Dass offenbar Erpressungen in der griechischen Innenpolitik immer wieder zur Tagesordnung gehören, zählte zu den ersten Erfahrungen des an vielen Stellen nicht ganz uneitlen Varoufakis, wie er sie bereits bei seinen Eintritt in der Politik erleben sollte. Daher entbehrt auch das geschilderte Erpressungsszenario gegen eine „Links-Regierung“ nicht der Glaubwürdigkeit. Dennoch bleiben derartige Chimären als Begründung für die bedingungslose Kapitulation Tsipras letztlich wenig überzeugend. Zum einen, weil ein derartiger Coup trotz des zumindest pseudo-demokratischen Charakters der EU so leicht nicht vorstellbar ist. Zum anderen aber vor allem auch deswegen nicht, weil nach dem griechischen Referendum vom 5. Juli 2015, in dem die Wähler mit über 60 Prozent gegen die Annahme des EU-Memorandums votierten, die Regierung von Alexis Tsipras einen überwältigenden politischen Rückhalt innerhalb des Landes genoss.

Doch nicht nur in den offen gelegten Drohungen und Erpressungsversuchen gegenüber der Linksregierung enthüllt das Buch immer wieder bestürzende postdemokratische Zustände. Schon die ersten Versuche von Varoufakis, neu im Amt im Kontakt zum deutschen Finanzminister Schäuble zur längst überfälligen Änderung der gescheiterten Austeritätspolitik gegenüber Griechenland hinzuwirken, führten bloß zu verächtlichen Kommentaren des deutschen Finanzministers: „Man kann nicht zulassen, dass Wahlen eine Wirtschaftspolitik beeinflussen“, zitiert er an einer Stelle die entscheidende Äußerung seines deutschen Gegenspielers in der Runde der Euro-Finanzminister (S.289). Wie unter einem Brennglas machen diese Passagen des Buches die fundamentalen Lenkungs- und Legitimationsdefizite eines unausgereiften supranationalen politischen Konstruktes deutlich, das, mangels in der Realität funktionierender demokratischer Strukturen, sich ausschließlich nach dem Willen seines ökonomisch stärksten Mitgliedes verhält und dabei zugleich als unwillig erweist, im Rahmen seiner Entscheidungsprozesse auch die offenkundigsten Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gleichermaßen werden den Lesern die befremdlichen Rituale der Sitzungen der Finanzminister der Eurogruppe vor Augen geführt, von denen Varoufakis mit seinem Mobiltelefon heimlich Mitschnitte machte. „Bei jedem Euro-Gruppentreffen gab es, sobald den Ministern die Möglichkeit zu einer Stellungnahme gegeben wurde, dasselbe Ritual. Zuerst wetteiferten die Mitglieder von Dr. Schäubles osteuropäischen Cheerleader-Team darum, wer es schaffte, sich noch schäubliger als Schäuble zu gerieren. Dann gaben die Minister von Ländern wie Irland, Spanien, Portugal und Zypern, die bereits einen Bailout hinter sich hatten, – Schäubles Mustergefangene -, ihren Pro-Schäube-Senf dazu, ehe schließlich Wolfgang selbst die Veranstaltung, die er die ganze Zeit im Griff gehabt hatte, mit ein paar Bemerkungen abrundete“ (S.335). So wird in der Abwägung der Interessen der deutschen und französischen Banken gegenüber dem politischen Willen der Bürger eines kleineren Mitgliedstaates der Union ein stilles Requiem auf die Demokratie angestimmt. Wenn Interessierte später einmal nach den Ursachen der zeitgleich um sich greifenden Abwendung der Bürger gegenüber der Europäischen Union in vielen anderen Staaten des Kontinents suchen werden, wird man an der Unterwerfung der Athener Regierung durch die EU nicht vorbei kommen. Einen ungeschminkteren, schonungsloseren Blick eines zeitweiligen „Insiders“ hinter die Kulissen des Brüsseler Machtapparates dürfte man andernorts so schnell nicht mehr erhalten.

 

 

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Die ganze Geschichte, Yanis Varoufakis. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, übersetzt von Ursel Schäfer, Anne Emmert, Claus Varrelmann (Verlag Antje Kunstmann) München 2017, 664 Seiten, 30 Euro.