Vorbemerkung der Redaktion: Das Kultusministerium NRW unterstützt die Arbeit an diesem Roman mit einem Arbeitsstipendium. Betty Davis hat für KUNO einen Blick in das Typoskript geworfen:
Die Lokalhelden sind von einem ethnologischen Gestus geprägt. A.J. Weigoni betätigt sich als literarischer Rekonstrukteur der rheinischen Geschichte und einem, dem Rheinland abgelauschtem Idiom. Damit erschafft er Erzählwelten, die aus eigenem Recht leuchten, das war zuletzt der Fall bei seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet. Er beschäftigt sich mit Machtkonzepten und der Performativität des Alltagslebens in der allmählich untergehenden BRD. Wenn dieser Schriftsteller nur beobachtet, ist er schwer zu übertreffen. Aus den Betrachtungsgegenständen der rheinischen Alltagswelt ergießt sich ein Episodenfüllhorn. In diesem fein gesponnenen Netz hängt alles mit allem zusammen. Es sind Abhängigkeiten ökonomischer oder emotionaler Art, es sind Liebschaften, Enttäuschungen, Hierarchien und Neidkomplexe. Die Repräsentanten dieses verbrauchten bürgerlichen Systems sind als Protagonisten einer grundsätzlichen Machtdynamik gänzlich austauschbar. Wenn man ihnen zuschaut lernt man, wie Macht im Alltag ausgeübt wird – und sich dann im größeren Rahmen der politischen Arena manifestieren kann. Eine demokratisch gewählte „Staatsperson“ verfügt über Macht eben nur solange, wie ihr die Bevölkerung diese erteilt. Weigoni gibt mit dieser Erzählweise den Rheinländern und ihren Beziehungen zueinander Raum, sich zu entwickeln, dies führt zu einer epischen Darstellung, die mit den Mitteln von Ambiguität und Widersprüchlichkeit arbeitet. Die Welt wird nach dem Mauerfall opulenter, vielfältiger und drastischer.
Wie hören gleichsam das schnoddrige Alltagsparlando der Rheinländer
Der Geist gehört zum Rheinland wie Bratwurst und Bier. Weigoni spürt den Unvollkommenheiten nach, er nähert sich diesen „Ruinenbewohnern“ in einer Haltung aus abgebrühter Distanz und leidenschaftlicher Nähe. Wir lernen in diesem Roman nicht nur die urbanen Existenzen mit gesellschaftlich relevanten Problemen kennen, sondern die kleinen Leute mit ihren aufgegebenen Träumen, ihren täglichen Dosen an Desillusion, ihren Ehe- und Alltagsdefiziten. Weder verfällt dieser Satiriker in Sozialromantik noch führt er seine Charaktere in distanziertem Spott vor. Weigoni ist ein gnadenloser Realist, der sich den menschenfreundlichen Blick bewahrt hat. Die Geschichte spricht für sich, die Einzelbilder sprechen für sich. Dieser Schriftsteller befasst sich in ihrem zweiten Roman mit großen und kleinen tektonischen Verschiebungen. Wenn all diese soziologischen Elementarteilchen etwas eint, dann die Empörung. In diesem Roman ist eigentlich seit 1848 alles bereits vorhanden, in der Form von Kleinstaaterei und nachfolgendem Chaos. Dann setzt die Geschichte ein. Die Dinge werden unterschieden, sie bekommen ihre Namen, es werden spätestens nach dem 9. November 1989 Ordnungen errichtet. Die Paroxysmen der ‚Achsenzeit‘ sind Instabil, spannungsgeladen, gewalttätig – aber: Es sind noch die Ordnungen der alten BRD, der „einzichsten“ Demokratie, die von Deutschen Boden ausging. Irgendwann brechen sie zusammen, weil das innere Chaos wieder aufbricht, weil die Antagonisten aus dem Morgenland bereits trainieren, wie man als Pilot ein Flugzeug hijacked. Aber dies wäre eine andere Geschichte.
Die Empfindung der Sprachlosigkeit, Gestaltlosigkeit und Endlosigkeit
Katholiken leiden am Rheinland. Potestanten leiden am Rheinland. Atheisten leiden am Rheinland, sie begreifen ihr eigenes Erleben und Erzählen als angewandte Diskursanalyse und versuchen eine Philosophie zu entwickeln, deren Probleme sich genauso präzise lösen lassen, wie die der Mathematik. In der Ära der „Neuen Unübersichtlichkeit“ destabilisiert das eine hier das andere, selbstverständlich mit den besten Absichten. Die Transzendenz hat an Bedeutung verloren. Weigoni beschreibt die Alkstadt als Ort, um eine Sedierung zu betrauern, die das obergärige Bier erst hervorgebracht hat. Eine arbeitsteilige Gesellschaft produziert arbeitsteilig Images einer Zeit jenseits der Freizeit, jenseits sozialer Bedingtheiten. Traumbilder von einem einfachen Leben, kompliziert hergestellt. Die Rheinländer sehnen sich nach dem Gegenteil. Dieser Roman ist ein kohlenglühendes Stimmungsbild der rheinischen Befindlichkeiten, die darin von Weigoni beschriebenen Rheinländer sind Menschen, deren Lebenssinn in der Intensivierung aller Vitalfunktionen besteht. Es geht ihnen nicht mehr um ein anderes Leben oder um ein seliges Jenseits, wie es den Menschen in früheren Zeiten versprochen worden ist. Sie haben sich von der Erwartung eines Absoluten, eines letzten Sinns abgewandt. Es geht ihnen nur noch darum, mehr und besser das zu leben, was sie ohnehin schon sind. Die Erregung selbst ist es, die am meisten zählt. Es geht diesen Archetypen um die Intensivierung der Liebe, der Wahrnehmung und der Gefühle. Diese Intensität ist in diesem Roman allgegenwärtig. Letztlich haben die Lokalhelden aber immer weniger davon.
Land unter
Hochwasser bedeutet in der „Rheinischen Bucht“ nicht selten Land unter. Die Rheinländer neigen zu unverhältnismässiger Lethargie und einer schicksalsergebenen Berechenbarkeit, sobald sie mit ihrem Ende konfrontiert werden. Es gibt in der allmählich untergehenden „Bonner Republik“ keine Erinnerung ohne Interesse und keine Moral ohne falsche Gewissheiten. Alles ist von einem Firnis von Trostlosigkeit überzogen. Die Rheinländer machen alles in allem viel zu viel, jedoch vieles davon richtig. Auch nach Abgeschlossenes Sammelgebiet bleibt Weigoni ein Romancier, der den Roman als Erkenntnisinstrument versteht, und über das bloß Narrative uferlos hinaus will. Berührt werden auch hier beiläufig seine lebenslangen Lieblingsthemen: die Sprache, ihre Vergleichbarkeit und ihre Geschichte, das Wissen von der Braukunst, anthropologische Fragen wie die nach dem rheinischen Charakter und dem Dialekt. Die Prosa dieses Schriftstellers thematisiert immer auch Sprache und wie sie im kommunikationsgeschichtlichen Kontext verankert wurde. Das Rheinische ist eine erfundene Sprache, aber sie bedeutet die Wirklichkeit. Das Spiel mit der kommunikativen Unmöglichkeit wird von Weigoni auf rein textueller Ebene ausgeführt, seine Prosa glänzt besonders durch Selbstironie. Es ist ein stetiges Spiel mit den Regeln des Poesie, der Wirklichkeit und der menschlichen Existenz. Es ist ein Spiel mit der eigenen Unmöglichkeit. Und letztlich ist es wohl gerade dieses Bekenntnis zur Unmöglichkeit eines gelungenen Lebens, das diesen Roman überhaupt erst ermöglicht. Die Lokalhelden bieten en passant einen faszinierenden Blick in die Eingeweide der rheinischen Streitkultur.
Zurückgekehrt bin ich in die Heimat, doch die ersehnte ist sie nicht.
Jeong Jiyong
Die Globalisierung funktioniert im Rheinland als Sichtbarmachung innerer Zerrüttungen. Das System der gegenseitigen Kontrolle findet in den Brüchen innerhalb der rheinischen Gesellschaft und der entgleisten Biografien den geeigneten Nährboden. Es ist eine beunruhigende, unheimliche Prosa, sie entwirft ein Panorama dunkler Bestandsaufnahmen von urbanem Sein unter einer namenlosen, oft technifiziert wirkenden Bedrohung. Deren Folgen, Splitter von Kapitalismus- oder Governancekritik mischen sich mit Blicken und Entdeckungen der Rheinländer. Daraus entwickelt Weigoni eine tragfähige Doppelbödigkeit, seine Glokalisierung meint erheblich mehr als eine ironische Brechung. Das Leben im Rheinland erscheint bisweilen als als ganz ferner Kontinent, es ist nicht mehr das, was es einmal war – oder besser gesagt: gewesen sein soll. Das gestrige Label Weltliteratur erscheint als ein Paradoxon, denn sie zeichnet sich vor allem durch dasjenige aus, was sie verschweigt. Man blickt von einem absoluten Aussen der Repräsentation auf eine Welt, die einem nur noch als ein irritierender Lichtblitz erscheint, dann schaut er etwas genauer hin und bekommt es mit der Angst zu tun. Was beeindruckt ist die gekonnte Episodenhaftigkeit in den Lokalhelden, durch flüssige Montage und auch im Detail durch elegant-bewegliche Auflösung der einzelnen Szenen.
Wenn dies die beste aller Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?
Voltaire
Das Rheinland wird mikroskopiert, Weigoni hebt Dinge hervor, an denen man täglich vorbeiläuft, ohne sie zu sehen, in diesem Roman wird der Leser mit Verhaltensweisen konfrontiert, denen er unterliegt, ohne es zu wissen. Die Rheinländer stecken auf wahrhaftige Weise in ihrer Haut, die Spontaneität erscheint nur an der Oberfläche gebändigt. Dieser Roman zielt damit direkt auf die Wirklichkeit, jedoch nicht im Sinne naiv-realistischen Erzählens, das oft genug nur Klischees bestätigt. Man könnte diese Literatur als einen Realismus der Weltwahrnehmung bezeichnen. Aber Vorsicht, dieses Werk ist komplex und vielfach sind die Bezüge. Romanhaft baut Weigoni die Kontingenz nach, die das nicht fiktive Leben besitzt. Nur dass sich im Nachbau die Kontingenz als mühsam konstruierte mit Notwendigkeit gerade verliert. Die Spontaneität des Lebens im Rheinland findet hier eine Form, die nicht bändigt, sondern befreit. Diese Flussbewohner wollen am Ende einer langen Nacht nicht gefallen, sie wollen wahrhaftig sein. Wir erkennen den Rheinländer als menschgewordenes Subjekt.
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Zur Subscription freigegeben: Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend →
Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein Rezensionsessay von Denis Ullrich.