Defekte

Das laute Poltern eines massiven Gegenstandes hatte er wahrgenommen, war aus dem Schlafzimmer geeilt. Doch nichts Besonderes bemerkbar, kein Gegenstand lag auf dem Boden herum. Alles Wichtige befand sich auf dem Tisch oder aber auf einem Sideboard, welches er vor einiger Zeit unter die niedrig auslaufende Schräge seines Dachgeschosses geschoben hatte. Verwundert am Kinn reibend schaute er die beiden friedlich spielenden Kinder an. Ungerührt und völlig vertieft saßen sie an dem kleinen runden Wohnzimmerglastisch aus den sechziger Jahren, ein Erbstück. Schlichtestes Design nach Vorbild der Bauhaus-Entwürfe, Form folgt Funktion. Klare Linien, einfache Formen, keine Schnörkel, nichts war versteckt. Glasplatte, Rundgestell aus Holz, Rohrstahlbeine. „Ich bin, also bin ich.“

Sie spielten Monopoly, die beste Metapher für die Situation unserer Gesellschaft. Die Habenschere geht auseinander. Einer geht bankrott, einer wird reich. Und dann gibt es zum Schluss heftige Proteste, handfesten Streit. Der beste Stratege oder Schummler siegt, das ist schon einmal klar.

Er zog sich wiederum in das Schlafzimmer zurück, nicht um sich hinzulegen, auch wenn sich in den letzten Tagen genügend Müdigkeit aufgestaut hatte. Er wollte sich einfach nur umziehen. Gerade als er in das linke schwarze Hosenbein schlüpfen wollte, er stand dabei in ziemlich instabiler Position, hörte er wieder dieses dumpf krachende Geräusch. Nicht erklärbar. Er humpelte hüpfend herüber ins Nachbarzimmer. Situation weiterhin unverändert, nichts schien sich bewegt zu haben. Ein Stillleben reinster Idylle. Dabei schien ihn noch nicht einmal einer zu beachten.

Er musste an die Zeit vor einigen Jahren denken, als in einem von ihm angemieteten Arbeitsraum immer wieder seltsame Dinge passierten, die nicht erklärbar waren. Mal schritt man plötzlich durch eine ziemlich kalte Zone und fühlte sich in die Gegenwart einer offensichtlich nicht anwesenden Person versetzt. Nicht feindlich gesonnen, sondern gleichgültig. Dann war er immer einige Schritte zur Seite getreten und auf dem Rückweg zum Wasserhahn war das Phänomen schon vorbei. Schnell vergaß er diese Erlebnisse wieder, doch die Häufung macht es. Eines Nachts hatte er bis weit in die Müdigkeit gearbeitet und die Schiebetür mit den daran montierten Glocken öffnete sich hörbar. Sehen konnte Herr Nipp dies allerdings nicht, weil er hinter einer Trennwand seiner Tätigkeit nachging. Dann hörte er Schritte bis zur Tür seines Räumchens kommen, klar vernehmbar zweiundzwanzig Stapfen auf Beton. Man kennt diesen leicht schabenden, leicht knirschenden Ton. Der zu erwartende Besucher blieb vor der Tür stehen, Herr Nipp hatte geglaubt, sein Atmen zu hören, aber nichts tat sich weiter. Er schaute dahin, wo er jemanden vermutete und sah niemanden. Verließ seinen Platz, schaute auch in die anderen sechs Räume, nirgends war jemand zu finden. Schultern zuckend kehrte er zu seiner Arbeit zurück, als auch sein Rufen keine Reaktion hervorgerufen hatte. Wenn man so tief im Tun steckt, sich so sehr auf etwas konzentriert, dann kann es schon einmal vorkommen, dass die Sinne Streiche spielen. Dann verschwimmen äußere und innere Realität. Auf diese Weise erklärte er sich das Erlebnis und konnte hierauf auch durchaus konzentriert weiter machen. Als er jedoch einige Minuten wieder geschaffen hatte, konnte er wiederum die Schritte auf Beton hören, gleicher Rhythmus, ganz klar und deutlich, es konnte keine Täuschung sein. Irgendjemand musste sich da entfernen. Die Schiebetür wurde aufgezogen, die Glocken klimperten leicht disharmonisch. Dann wurde es still. Herr Nipp wollte einige Zeit später nach Hause fahren. Er musste feststellen, dass sich die Absperrung immer noch in abgeschlossenem Zustand befand, so wie er es gewöhnlich machte, wenn er alleine war, er hatte den Schlüssel innen stecken lassen. Erst in diesem Moment überlief es ihn eiskalt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass da etwas nicht gestimmt hatte. Niemand hätte hinein kommen können, es sei denn, er wäre über das Dach geklettert und hätte sich durch einen der geborstenen Glasbausteine gezwängt. Bisher war er von einem Streich ausgegangen. Lange Zeit hatte er nichts darüber verlauten lassen, denn man kommt sich schließlich ein wenig seltsam vor, wenn man von solcherart Erscheinung spricht. Esoterischer Schwachkopf mit Hang zu diffuser Hysterie. In einem nächtlichen, leicht alkoholisierten Gespräch hatte jedoch ein älteres Mitglied der Arbeitsgruppe Ähnliches berichtet. Der Wein lockert manchmal die Zunge und dann kommen einem Erlebnisse und Bekenntnisse über die Lippen, die man eigentlich für sich behalten würde. Das hatte aufhorchen lassen. Irgendwie war allerdings auch dies eher amüsant. Ganz anders wurde es Herrn Nipp allerdings, als eine psychisch sehr anfällige junge Frau bei einem Besuch fast wahnsinnig wurde, weil sie überall seltsame Personen zu sehen glaubte, die ihren Tätigkeiten nachgingen, an unsichtbaren Geräten, diese Leute marschierten oder standen einfach zusammen, unterhielten sich. In panischer Flucht hatte sie das Gebäude verlassen, verschwitzt, mit gehetztem Gesicht. Die verstörte Frau war nie wieder in die Arbeitsräume gekommen, hatte alle weiteren Verabredungen mit einem anderen aus der Gruppe einfach abgesagt.

Dass das Geräusch ein drittes Mal erklang, muss jetzt eigentlich nur noch aus rein dramaturgischen Gründen erzählt werden. Klimax nennt sich dies wohl. Eine dreischrittige Steigerung, um zu verdeutlichen, wie brisant die Lage wirklich ist. Märchen und Bibel arbeiten gerne auf diese Weise. „Wenn der Hahn dreimal gekräht hat…“ oder „als er das dritte Mal“ oder „in der dritten Nacht“, aber tatsächlich geschah es. Also, das Gepolter erklang ein drittes Mal, als Herr Nipp sich gerade sein dunkelgraues Hemd zuknöpfte. Er wollte schließlich noch auf eine ihm wichtige Veranstaltung. Wieder aber konnte er keine Veränderung ausmachen.

Bekannt dürfte wohl sein, dass die Kamera zu seinen alltäglichen Ausrüstungsgegenständen gehört. Normalerweise geht er nicht aus dem Haus, ohne sie in die Tasche zu stecken. Überall konnte man schließlich Kleinigkeiten entdecken, verblüffende oder verblüffend einfache Strukturen, die farbenprächtigen Himmelspiele zum Abend hin beobachten. In der Absicht am folgenden Tag fotografieren zu wollen, zeigte es sich, dass die Kamera nicht mehr funktionierte. Irgendein Teil des Verschlusses hatte sich gelöst und quergestellt, jetzt würde er die nächsten Wochen ohne auskommen müssen. Reparatur. Ob dies etwas mit dem Gepolter zu tun hatte, konnte allerdings nicht zweifelsfrei geklärt werden. Mag sein, dass die neuen Mieter in der unteren Wohnung ihre Möbel verrückt hatten.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Zudem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Haimo Hieronymus präsentiert zudem Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

In 2018 kommt etwas Gewichtiges auf Sie zu. Zyklop I ist mit einer partikularen Sichtweise eine ebenso wunderbare, wie irritierende Erfahrung. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen, denn Haimo Hieronymus will unbestreitbar Schönheit schaffen und er will hier nicht weniger als von allem erzählen: Vom Großen, Ganzen, vom Kosmos, von der Schöpfung. Gar vom Leben selbst, indem er in die Vollen greift, ohne Angst, etwas falsch zu machen. Kunst erkennt man daran, daß sie das Ewige sichtbar macht, Bilder werden zu einem idealen Erkenntnismedium. Zyklop I ist ein sakrales Kunstprojekt ohne religiöse Dogmen.

Zur Subscription freigegeben: Zyklop I, Katalog von Haimo Hieronymus, Edition Das Labor. Erscheint im September 2018 in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren. Freunde und Förderer werden im Katalog mit einer Würdigung dokumentiert.

Anfragen zu Zyklop I und den bibliophilen Kostbarkeiten über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.