Dass er wegen eines Fußballspiels irgendwann einmal versetzt werden würde, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Wie ein Klatschen ins Gesicht mit einem nassen, kalten Waschlappen war es ihm vorgekommen. Nicht sauer, er war einfach traurig darüber gewesen, hätte niemals gedacht, dass Fußball jemandem so wichtig war, sein konnte. Hatte im Fußball immer etwas wie Müßiggang gesehen, abseitige Unterhaltung. Niemals aber konnte dies doch wichtiger sein, als ein gutes, selbst gemachtes Essen zu genießen. Dabei hatte er doch an alles gedacht, die Zutaten bewusst eingekauft, immer auf beste Qualität geachtet. Na, jetzt also saß er da und wusste zunächst nicht, was zu tun sei.
Irgendwann hatte er sich Wasser in die Wanne laufen lassen, heiß, es konnte ja noch etwas kühler werden. Bis er fertig war.
Eigentlich hatte er schon morgens in einer Wanne gehockt, in einer kleinen Pension, dort in beengten Verhältnissen den Schlaf aus jeder Pore gespült. Wie erholsam konnte es sein, wenn man sich mit abwechselnd heißem und kaltem Wasser abspritzte. Zuschaute, wie die einfach verglasten Fenster sich beschlugen und irgendwann völlig blind wurden. Da er in der Zwischenzeit nichts Anstrengendes angegangen war, musste dieses zweite Bad wirklich nicht sein, reiner Luxus. Die Möglichkeit abzuschalten. Vor vielen Jahren hatte er sich ein arretierbares Brett gebaut, auf der einen Seite wurde dieses von der Kachelwand gehalten, auf der anderen konnte man es an den Wannenrand klemmen. So entstand ein kleiner Tisch. Bevor er sich in die Wanne setzte schob er dies damals immer zum Fußende und sobald eine bequeme Position gefunden war, zog er es mit sämtlichen darauf befindlichen Dingen zu sich heran. Daran musste er in dieser ach so schweren Stunde nun denken und wusste, demnächst würde er sich wieder ein solches eigentlich unverzichtbares Möbelstück bauen müssen. In Zeiten, da man sich auf andere nicht verlassen konnte, musste man sich selbst Hilfe zur Selbsthilfe erdenken. Selbsthilfe ermöglichen. Wohl gemerkt natürlich ganz eigennützlich.
Auch in anderen Situationen kam es ihm immer wieder vor, als müsse er solcherart Dinge ersinnen. Wenn man dadurch besser leben konnte…
Daraufhin hatte er sich in die Küche begeben, die eigentlich nur aus einer im Wohnraum stehenden Zeile bestand. Er hatte sich einen 500-Gramm-Becher mit mildem fettarmem Naturjoghurt aus dem Kühlfach geangelt. Eine dünnhäutige Avocado geschält und in dünne Scheiben geschnitten, rund 200 Gramm der säuerlich geronnenen Milchspeise hinzugefügt und in einer Schüssel mit dem Kartoffelstampfer unter heftigem Drücken vermengt. Dazu grobes Meersalz aus einer Mühle, frisch zerstoßenen Pfeffer dazu. (Den fahrenden Gewürzhändlern sei an dieser Stelle gedankt, dass sie die innigsten Wünsche der Menschen erfüllen und diese glücklich machen. Die Menschen, nicht die Wünsche, versteht sich. Wer hatte denn je von glücklichen Wünschen gehört, denn die entstanden immer aus einem Bedürfnis oder aus Unglück.) Aus einer angeschnittenen Zitrone waren einige Tropfen Saft geflossen, den Geschmack abzurunden, eine spritzige Note verleihend. Den restlichen Joghurt hatte er mit Früchten vermischt, Banane und einige Mandarinen, es konnten auch Clementinen sein, so genau hatte er die nie zu unterscheiden gewusst, waren nun mit Hilfe eines Zauberstabes zu einer homogenen Masse verquirlt wurden. Dazu ein großes Glas Saft. Orangensaft, Direktpressung, soviel war man sich schließlich selber schuldig. Gerade als er zur Badewanne wollte, fiel ihm ein, es würde die ganze Sache abrunden, wenn er einige Scheiben zu Streifen geschnittenes Körnerbrot im kaltgepressten Olivenöl anbriete. Goldig braun, dieses leicht bitterherbe Aroma in der ganzen Wohnung verteilend.
Auf einem großen Teller schön hergerichtet, die Brotstreifen bildeten eine Strahlenaura um die grüne Avocadomasse, deren richtigen Namen er nie richtig auszusprechen, viel weniger schreiben gelernt hatte. Die Farbe erinnerte ihn an einen jungen Buchenhain im Frühling. Die Joghurtspeise in einer Glasschüssel, garniert von einem Spritzer Grenadine. Der Saft allerdings musste sich mit einem Plastikbecher zufrieden geben. Stillos, aber effektiv.
Als er ins Wasser eintauchte, das Gesamtensemble von Abendgericht befand sich auf einem nebenstehenden Stuhl, konnte er ein gewisses Glücksgefühl verspüren. Nein, eigentlich konnte er nicht mehr traurig sein, dass er diesen Abend alleine blieb. Aus dem Wohnraum waberte Nick Cave aus der Konserve und spülte ihm seine weichsten Schmachtsongs über Liebe und Liebesmorde durch das Gehör ins Gehirn. Nachsichtig verzieh unser Protagonist der Welt ihre Ungerechtigkeit, gab sich der Wärme hin und brauchte über eine Stunde, das Mahl genießend zu verzehren. Er hatte auch gar kein schlechtes Gewissen, dass er sich nach und nach immer wieder einmal heißes Wasser nachlaufen ließ. Und als er sich später auch noch das Ergebnis des Fußballspiels zu Gemüte führte, konnte Herr Nipp sogar schon wieder ganz breit grinsen. Das hatte man davon, wenn man sich eines seiner Essen entgehen ließ.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019
Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Zudem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Haimo Hieronymus präsentiert zudem Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.
Zur Subscription freigegeben: Zyklop I, Katalog von Haimo Hieronymus, Edition Das Labor. Erscheint im September 2018 in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren. Freunde und Förderer werden im Katalog mit einer Würdigung dokumentiert.
Anfragen zu Zyklop I und den bibliophilen Kostbarkeiten über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421
Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.