Der Sammelband, bestehend aus Essays, Reden und Abhandlungen, trägt die Orientierungsmuster einer doppelten Zueignung. Im Vorwort attestiert der Verlag seinem renommierten Autor einen unorthodoxen Blickwinkel und eine enzyklopädische Sichtbreite, die sich durch eine überraschende Einheitlichkeit auszeichne. Dieses breite Spektrum der seit 1982 in verschiedenen Zeitschriften abgedruckten Aufsätze begründet Hans Bergel in seinen einleitenden Reflexionen über die „Drei Sonnen“, die sein literarisches Schaffen mit ihrer unvergleichbaren inspirierenden Strahlkraft beeinflusst hätten. Das am Grabmal von Friedrich Nietzsche aus Anlass der Jahrestagung des Exil-P.E.N. deutschsprachiger SchriftstellerInnen in Röcken im Oktober 2016 vorgetragene Bekenntnis zu den Werken von Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich von Kleist und Friedrich Nietzsche dient Hans Bergel als Leitlinie und Bekenntnis zu einer radikalen und zugleich konsequenten Betrachtung der Welt aus äußerst unterschiedlichen perspektivischen Einstellungen. Im Laufe der Jahre, so Bergel, seien sie „trotz des Absolutums ihrer Gegensätzlichkeit zur Einheit … verschmolzen“. (S. 9). Diese drei Antriebskräfte, der erweckenden (Goethe), der bändigenden (Kleist) und der fordernden (Nietzsche), hätten ihn mit einer Dreifaltigkeit ausgerüstet, ungeachtet der „unsäglichen Umdunkelungen der Zeiten“ auf der richtigen Spur zu sein.
So ausgerüstet mit den tief schürfenden Überlegungen und Bekenntnissen des Autors erfordert die Lektüre der thematisch breit angelegten Texte eine besondere Einstellung, die von der Empfehlung geleitet sein sollte, sich den einzelnen Aufsätzen mit je unterschiedlichem Interesse zu nähern. Wie umfassend und vielschichtig die Ausführungen sind, zeigen bereits die Überschriften der einzelnen Beiträge. Sie greifen Migrationsprobleme auf, verweisen auf Leben und Sterben der Kulturen wie auch auf die Poetik der rumänischen Dichterin Ana Blandiana und des aus Galizien stammenden Dichters Alfred Margul-Sperber, bewerten das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Nationaldichter Goethe, setzen sich mit diversen plastischen Reitermotiven auseinander, beschäftigen sich mit der politischen Farbsymbolik von Rot und Braun, erinnern an den bedeutenden musikhistorischen Beitrag seines Bruders Erich über die „Kunst der Fuge“ und analysieren auf der Grundlage bitterer persönlicher Erfahrungen das kriminelle Wirken des rumänischen Geheimdiensts Securitate.
Hans Bergel, der Nestor der deutschrumänischen Literatur, Schriftsteller, Philosoph und Kulturwissenschaftler legt mit diesen ausgewählten Schriften ein besonderes Zeugnis außergewöhnlich scharfsinniger Reflexionen und analysierender Beobachtungen und Wertzuschreibungen ab. Worin besteht die besondere Qualität seiner kulturhistorischen und ideologiekritischen Feuilletons? Unter Verweis auf den Untertitel der vorliegenden Publikation mit dessen Alliteration M-M-M ist festzuhalten: der Autor verbindet sehr oft das Handeln der entsprechenden Personen mit deren maskiertem Wirken unter dem zeitweiligen Schutzmantel von Mächten, konzentriert sich zugleich auf besondere Beispiele von autonomen Denkstrukturen und deren publizistische und schriftstellerische Entäußerungen. Ein Beispiel vermag diese argumentative Vorgehensweise zu verdeutlichen, wie Bergel auf der Grundlage von zeitgenössischen Aussagen über das Wesen der Deutschen und dessen Auswirkungen auf das Handeln ihrer Nation im 20. Jahrhundert das zwiespältige Verhältnis Goethes zu seinen deutschen „Landsleuten“ bewertet. „Die größten Dichter der Deutschen waren immer zugleich auch ihre unbeeinflussbaren Kritiker und ihre am wenigsten zu blendenden Analytiker. Von Lessing bis Hölderlin und Heine, von Luther (!) bis Nietzsche. Und der erste unter ihnen ist immer noch Johann Wolfgang von Goethe.“ (S. 29) Mit dieser Wertung, in der lediglich die Rolle von Martin Luther aufgrund seiner Obrigkeitshörigkeit im späten Alter anzuzweifeln ist, verbindet Bergel die besonders kritische Haltung des Weimarer Dichterfürsten gegenüber den Deutschen: „Ich habe so oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volks, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist.“ Die aus dem Jahr 1813 stammende Aussage und weitere kritische Äußerungen Goethes über die Deutschen nimmt Bergel zum Anlass, sich über dessen schwindende Berücksichtigung seiner dichterischen Werke im Schulunterricht zu beklagen. Mehr noch, er verweist auf benachbarte Kulturnationen, die ihre Genies in steter wachsamer Erinnerungen bewahren würden. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass eine „solche Misere deutschen Kulturgefühls der Gegenwart … nicht zuletzt damit zusammen(hängt), dass eine nach der Offenlegung der NS-Gräuel aus dem inneren Gleichgewicht geratene Gesellschaft … die Peinlichkeit beging, die Schuld an der Katastrophe der jüngsten deutschen Geschichte in Traditionen ihres bedeutenden geistigen Erbes zu suchen, anstatt sich selber der fatalen Missachtung und tendenziösen Deutung dieses Erbes zu bezichtigen.“ (S. 32)
Die Stimme des 1968 aus der deutschsprachigen Kulturlandschaft Siebenbürgen in Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten Schriftstellers Hans Bergel besitzt aus mehreren Gründen ein besonderes Gewicht bei der Einschätzung der kulturpolitischen Situation im Nachkriegs-Deutschland. Der wegen seines nonkonformistischen Schaffens und seiner konsequenten antikommunistischen Haltung in Rumänien zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilte Autor zahlreicher Romane und Erzählungen wie auch vieler publizistischer Abhandlungen erweist sich aufgrund der schmerzlichen Erfahrungen in seinem Heimatland, seiner kritisch-abwägenden Haltung gegenüber seinen Landsleuten wie auch seiner umfassenden transkontinentalen Einsichten als Aufklärer besonderen Grades. Seine fundierten, kritisch abwägenden Schriften rezipieren nicht nur das Erbe abendländischen Denkens und Handelns, sie greifen auch in das – freilich zusehend – unübersichtlicher werdende Getriebe der europäischen Politik ein. Das ihm dabei zur Verfügung stehende überbordende abendländische Handlungswissen erweist sich jedoch angesichts wachsender Spezialisierung und unkontrollierbarer Datenmengen trotz hoher Reflexionskraft der zur Verfügung stehenden Generatoren als noch nicht ausreichend, um den computergetriebenen digitalen Systemen im 21. Jahrhundert praktikable Lösungen abzuringen. Ungeachtet dessen bleiben die hier vorgelegten fundierten Schriften ein bedeutendes Zeugnis der „heroischen Mitte der Humanitas“, um Bergels Befund über die Absurde der Normalität abschließend zu zitieren. Dieses freilich vorläufige Urteil schließt jedoch nicht aus, dass die Schnittmenge der hier vorgelegten Werturteile viele Anregungen für themenübergreifende Diskurse bringt, vorausgesetzt, die aus einem hohen Potenzial von Lebenserfahrung entstandenen Texte werden in einer breiten interessierten Öffentlichkeit diskutiert.
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