ICH SUCHE EINE STADT

 

… wo im mittaglicht tauben in dächer fliegen

und opiumraucher beim Go spiel sitzen

wo flieder wie katzen auf mauern liegen

und wildjungen zinken in pforten ritzen

 

ich suche eine stadt wo teiche grünen

und zu grachten straßen und treppen führen

und hinterhöfe sind tausendschönbühnen

wo alleen sich in weites land verlieren

 

wo männer gereiht schmale straßen gehen

und alte fraun nicht allein für sich beten

wo auf firsten sich lebende hähne drehen

wo kinder wie katzen in hausflure treten

 

eine stadt auch belaufen von steppenfüßen

mit nischen voll moos und verwitterten sprüchen

wo in kleinen wäldern füchse sich grüßen

hinter piazzen mit wolken von marktgerüchen

 

wo schwangere frauen im sonnenschein liegen

hetairen mit freiern auf treppen plaudern

wo händler zu eilige um dirhem* betrügen

und geiger morgens durch kneipen klabautern

 

eine stadt wo sich fruchtstände reihn unter bahnen

und cafés sich in stürze des domes drücken

emigranten lesend unter platanen

und weiße paare mit schirmen im rücken

 

wo streicher manchmal auf dächern wohnen

und verfallende häuser gnadenzeit haben

schmale damen kutscher mit nelken entlohnen

auguren aus schafgarben lesen und schaben

 

eine stadt wo könige ringball üben

und bettler von freitischen rake trinken

wo blaue moscheen stehn an dreiwegen sieben

barbrüstig fraun gehen und männer sich schminken

 

wo wicken hangen über armbreiten gassen

halbwüchsige leere häuser beschlagen

wo ranis* mädchen verführn auf terrassen

die äffchen auf braunen schultern tragen

 

kinder leben mit malern in wintergärten

lesen ihnen vor aus unheiligen schriften

man verehrt die sandalen die pilgern gehörten

holt den sterbenden pan zurück aus den triften

 

ich suche eine stadt wo elefanten

tempel bewachen vergessener götter

eine stadt die auch für korybanten*

tanzplätze hat und agoren für spötter

 

eine stadt wo ich abstieg und drei tage bliebe

und gefragt was meine geschäfte sind

könnt ich sagen ich suche verfallende liebe

in städten die nicht verfallen sind

 

 

***

Rohlieder I – X von HEL, KUNO 2018

HEL ist bekannt geworden als Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. Diese Gedichte legen eine Stimmung frei, die zwischen Melancholie und Unbeschwertheit, Wehmut und Klarheit wechselt.

Weiterführend →

Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.

Anmerkungen:

dirhem = auch Dirham, arabische Münzeinheit, früher auch Gewichtseinheit

rani = „indische prinzessin“; vlg. Maharani

korybanten = „tänzer beim Dionysoskult“

 

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