Sozialismus mit menschlichem Antlitz

Wenn man dort einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz will, dann ist es nicht unser Recht, sich in diesen Weg einzumischen. Irgendwann mal war ich überzeugter Kommunist, doch 1968 fühlte ich mich schon eher als Liberaler.

Pawel Litwinow

Heute vor 50 Jahren wurde der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ von sowjetischen Panzern niedergewalzt. Mit dem Begriff „Prager Frühling“ verbinden sich zwei gegensätzliche Vorgänge: einerseits der Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, andererseits aber auch die gewaltsame Niederschlagung dieses Versuchs durch am 21. August 1968 einmarschierende Truppen des Warschauer Paktes. Die Bezeichnung „Prager Frühling“ stammt von westlichen Medien und ist eine Fortführung des Begriffs Tauwetter-Periode, der wiederum auf den Titel des Romans Tauwetter von Ilja Ehrenburg zurückgeht. Prag mit seiner politischen und kulturellen Aufbruchstimmung war für die Ostdeutschen, was Paris in dieser Zeit für die Westdeutschen war. Als sowjetische Soldaten in Tschechien einmarschierten und die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ begruben, kam es in der DDR zu keinen Massenprotesten, aber zu vielen individuellen Aktionen mit Losungen auf Häusern und Brücken, mit Flugblättern. Es sollte bis zum November 1989 dauern, bis die Bürger der DDR zu einer – nicht durch die SED gelenkten – Massendemonstration zusammenkommen sollten.

In seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet stellt Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zwischen November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Die Inhumanität eines Zeitalters ist integrales Element einer Kunst, die dagegen ihre humanen Gegenkräfte aufbietet. Weigoni vergegenwärtigt diese Phänomene bis an die Schwelle unserer Gegenwart. Die Gattung des historischen Dramas wird auf seinen historischen Hintergrund hin ausgeleuchtet. Er richtet auf die Wandlungen der Protagonisten, die er als Analogon zum „Wandel in Geschichte und Gesellschaft“ begreift, wie er durch die 89-Revolution ausgelöst. Immanuel Kant hatte als „Widerstandsrecht“ gegen staatliche Herrschaft nur die „Freiheit der Feder“, nicht aber die physische und bewaffnete Gewalt gutgeheissen, eine Überzeugung, die der Kriegsdienstverweigerer Weigoni mit ihm teilt. Die Tyrannei der Fremdbestimmung ruft das Widerstandsrecht und damit die friedliche Revolution auf den Plan. Die Sprache kommt vor allem der Bewußtseinswandel, den Weigoni als einen Erkenntnisprozeß versteht. Die doppelte Optik der zeitlichen Bezüge, also die Spiegelung der Gegenwart im Gewand historischen Geschehens, wird auf Rügen anschaulich. In diesem Roman bringt er fiktive Realität und reale Fiktion in immer neuen Mischungsverhältnissen zum erzählerischen Siedepunkt, indem er die Spirale immer weiterdreht, dem Realismus immer neue ironische Dimensionen abringt. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt. Dieser Roman ist die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen. Prosa wie Abgeschlossenes Sammelgebiet kann man womöglich nur eingeschränkt mit Befriedigung lesen, man sollte ihn geniessen, die Heftigkeiten des Texts ertragen, man muss sich ihren Besonderheiten ausliefern, ihre Bewegungen mitvollziehen, zur Not der inneren Weigerung zum Trotz. Der Riß durch die Gesellschaft und in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird in dieser Prosa deutlich. Es war seine Lust, die Paradoxien des Daseins durchzuspielen und dabei jede Art von Gewissheit zu pulverisieren: Wir sind, was uns unterläuft.

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.