Sinnlich faßbare Kunst

haimo hieronymus betont die unersetzlichen merkmale sinnlich faßbarer kunst, wenn er sagt: »Unsere derzeitige Medienindustrie hat bei aller Umstellung einen Faktor unterschätzt, den die alten Medien Buch und Schallplatte haben: das Haptische. Es finden sich immer wieder Menschen, die sich begeistern lassen von der Synästhesie beim Blättern eines Künstlerbuches.« und »Die Glattheit der digitalen Medien, die uns ja schon bei den CDs durch einen überirdischen Glanz vermittelt wurde und inzwischen ins Immaterielle flüchtet, hat nicht mit dem körperlichen Menschen zu tun.«

Steinlupe, Künstlerbuch von Haimo Hieronymus, 1998

kuno schrieb: »Der Buchkünstler Hieronymus betätigt sich künstlerisch vielfältig in der Malerei wie der Zeichnung, er erstellt Objekte, Holzschnitte, Radierungen, Collagen und publiziert Künstlerbücher.«, »Die kräftig-bunten Farben der strahlenden Konsumwelt sind einem gebrochenen Farbspektrum gewichen, ihr Auftrag zeigt sich bewusst unvollkommen, die Botschaften werden der Frage würdig, fragwürdig. Er nutzt die Besonderheiten des Materials, die Lichtführungen, etwa von Schellack und Bienenwachs, diese erzeugen ein untergründiges Leuchten, nicht fassbar, raumgreifend, so muss der Betrachter mit den Blicken, wegen der störenden Lichtreflexe, aber auch körperlich, die fragmentarischen Agglomerate erwandern.«, »Sieht man genauer hin, stößt man auf Blätter, die mehrmals bedruckt wurden. Man kann unter den obersten Schichten die früheren sehen, man soll es sogar. Haimo Hieronymus macht den Arbeitsvorgang sichtbar und multipliziert den Augenblick.« und »Alles, was vorher war, unter einer einzigen glatten Oberfläche verschwinden zu lassen, würde ihm wahrscheinlich vorkommen wie ein Verrat am schöpferischen Prozeß.« damit wäre wichtiges gesagt.

indem hieronymus beim malen kreative prozesse gestaltet und abbildet, wird beim betrachter die fähigkeit angeregt und herausgefordert, über die entstehung von kunst, und damit ihren inneren kern, nachzudenken. auch die verletzung der oberfläche kann wesentliches zum vorschein bringen. mitunter sind verwundete strukturen sogar die originellsten. »Nur eine verletzte Auster produziert eine Perle: Kunst.«, erklärt hagedorn. a.j. weigoni reflektiert in seinen gedichten, die das kunstbuch Partiale enthält, ähnlich vielschichtige und mehrdeutige zusammenhänge, um dahinter zu kommen, postuliert: »Physiognomiker der Dingwelt werden« und konstatiert: »das Bewusstsein gaukelt / freie Willensentscheidungen vor.« (jeweils »Lebenswissenschaften«).

ich versuchte zunächst, herauszufinden, wer und was haimo hieronymus künstlerisch geprägt hat. und dabei fielen mir namen ein wie joan míro, henri matisse, paul klee, lyonel feyninger, gustav klimt, antonio gaudí, gerhard richter oder sigmar polke, bei denen er anleihen genommen haben könnte. präsentationen seiner kunst führten ihn in diverse galerien und andere ausstellungsräume in nordrhein-westfalen sowie nach berlin, dresden, hannover, österreich, frankreich, schweden und in die Niederlande.

Schablonendruck mit Acrylfarbe auf schwarzem Buchkarton. Auflage 100 Exemplare.

das kunstbuch Partiale enthält arbeiten aus den jahren 2014 und 2015, die auch etwas serielles haben. j.c. albers schrieb in der Einleitung«: »Das Adjektiv partial als seltenere Nebenform von partiell verweist auf einen Teil-, Teilmengen oder bruchstückhaften Charakter. Und genau das ist es, was wir in den vielen bunten Einzelbildern erkennen: Teile, Strukturen und Fragmente, ein Mosaik unserer Alltagswelt.« partial und partiell sind verwandt mit lateinisch pars = teil, anteil, seite, particula = teilchen, stückchen, mittellateinisch partialis = einzeln, aufgeteilt, individuell, spätlateinisch partiālis = (an)teilig, teilweise vorhanden, italienisch in particolare = besonders und französisch partial = parteiisch.

manche der bilder, wie »Partial«, haben die leuchtkraft von glasmalerei. man findet natürliche strukturen, so muster aus der welt der pflanzen und insekten, etwa blüten, früchte und bienenwaben, daneben stoffe, tapeten und schattenfiguren, also strukturreiche motive, sowie architektonische formen, darunter auch strenge, symmetrische. das bild »P15« zeigt einen schmetterlingsflügel, »P23« einen käferrücken. »P 22« bildet eine totenhand nach, die wie eine kette aus knöchernen gliedern oder stäben zusammengesetzt scheint, während »P33« fingerabdrücke erkennen läßt. so lassen sich realitäten phänomenologisch betrachten. knochen, aus denen sich das leben in den mythen vieler völker erneuern kann, enthalten lebenssubstanz. fingerabdrücke dienen mehr kriminalistischen zwecken.

in Partiale werden formentypen verschiedener kulturepochen und lebensbereiche sowie unterschiedliche blickwinkel inundübereinander geschoben. durch die perspektive bekommen manche der bilder etwas räumliches. teils formieren sie sich zu feldern, die auch bedeutungsfelder sein können. ähnlich gefächerte formen und strukturen findet man bereits im katalog Dialog von 2000 mit arbeiten von peter meilchen und haimo hieronymus. verwiesen sei hier etwa auf die »Skyscape«-reihe sowie »Landscape« und »So gesehen weit«. die denkstrukturen des vorworts von juliane rogge zu »Alphabetikon« könnte man ebenfalls geradezu räumlich und bildhaft darstellen, etwa im fächerartigen ineinandergreifen der gedanken. zugleich entwickeln auch minimalistische formen ihre eigene stringenz.

aus: Alphabetikon

viele der muster in beiden künstlerbüchern sind dekorativ. »Figur« aus Alphabetikon zeigt posen. in »Ornament« wird der körper eines aktes hervorgehoben. ornament ist mit ornat verwandt, figur mit fiktion, finte und fingieren, siehe lateinisch fingere, das, außer formen, gestalten, darstellen, ausbilden und erinnern, auch dressieren meint. fictor hieß neben dem bildhauer der lügenmeister. »Dekor« assoziiert jugendstil-figuren sowie übergänge zwischen kunst und tapete. lateinisch decorāre bedeutet zieren, schmücken, ehren, verherrlichen, decor anstand, anmut, liebreiz, zier(de), schmuck, französisch décor ausstattung, zierrat, dekor, bühnenbild, kulisse(n), rahmen, décorum etikette. raumausstatter und bühnengestalter heißen dekorateur. das wort tapete bezeichnete ursprünglich farbige decken für tische und betten sowie wandbehang und bodenbelag. französisch tapisserie meint wandbehang, wandteppich, gobelin. teppich und tapete sind verwandte worte. ursprung ist lateinisch tapēte = teppich, decke, spätlateinisch wandteppich, tapete, das wohl aus dem persischen stammt.

zugleich hinterfragt der künstler das dekorative in verwandlungen und variationen, die das allzu gefällige strukturell auflösen. beide tendenzen, das effektvolle und dessen aufhebung im reflexiven, scheinen aber auch miteinander zu kämpfen. das bild »Theater« könnte sagen, daß theaterspiel offenbarung aus der verhüllung sei. die entwertungen der künste im öffentlichen raum können chancen für die autonomie der künstler sein, wenn das subtile als tiefenschicht die plakativen vordergründe unterwandert.

kuno wies darauf hin, daß sich auf den leinwänden, pappen und papieren von haimo hieronymus, der germanistik und bildende kunst studiert hat, schon seit jahren sprache, wörter und buchstaben finden. »Alphabetikon«, das als bilderlexikon konzipiert ist, erspürt spuren von zusammenhängen zwischen sprache und bild. der titel der serie, die 2014 in der werkstattgalerie »Der Bogen« neheim ausgestellt wurde, vereint das spätundkirchenlateinische alphabētum, das die griechischen buchstaben alpha und beta verbindet, mit dem byzantinisch griechischen eikóna = bild, abbild, bildzeichen und russischen ikóna = bildnis, standbild, heiligenbild, also das sprachliche und gedankliche mit dem bildhaften und symbolischen. in diesem spannungsfeld bewegen sich die arbeiten, die assoziativ deutungen von sprache in bildern und bildern in der sprache sind. buchstabenmagie findet man in verschiedenen religionen bei der bezeichnung und anrufung des gottesnamens.

in einem gespräch sagte hieronymus: »Bild und Text gehen hier ganz offensichtlich eine Verbindung ein, die nicht zu trennen ist. Aus der Mischung wird eine Legierung. Dadurch erhalten beide Seiten neue Eigenschaften, die uns eben auch neue Gedanken ermöglichen. Ich habe mir die Frage gestellt, in welcher Weise Wörter unsere Wahrnehmungen beeinflussen.« und »Tatsächlich ist es mit dem Alphabetikon möglich, über die Ecken und Kanten unserer festgefügten Gedanken zu neuen semantischen Horizonten aufzubrechen. Ich brauche es nur noch aus dem Kopf zu fischen.«

dies bezeichnet einen analytischen und reflektierenden ansatz, der zugleich spielerisch wahrgenommen wird. maurice merleau-ponty vermerkte, reflexion sei nur dann wahrhaft reflexion, wenn sie »sich selbst als Reflexion-auf-Unreflektiertes erkennt, und folglich als Wandlung der Struktur unserer Existenz.« das reflexive denken ist vielleicht das wichtigste erbe der aufklärung, und der kritik derselben, weil es sich immer wieder neu anwenden läßt, während systeme, geistige und religiöse wie politische und kulturelle, vergehen. der europäische geist will reflektieren. und das sollte so bleiben, zumal es vor groben weltbildern schützen kann. freilich besteht auch die gefahr, daß man etwas zerreflektiert und vor lauter deutungsnuancen, die als spiegelbilder das original überblenden, das inhaltsganze und wesentliche aus dem blick verliert. »Auge« läßt an einen göttlichen blick hinter einem wolkenhimmel aus papier denken. vielleicht bezeichnet dies verschleierungen im menschlichen bewußtsein. in »Welle« bilden wellen, womit funkwellen gemeint sein könnten, gitter wie in einem gefängnis. gedankengitter im kopf verhindern häufig, daß man die wirklichkeit unmittelbar erblickt.

in Alphabetikon fallen zudem die kühl wirkenden lippen in den gesichtern der kinderfiguren auf, die insgesamt einen vereinsamten und verhärteten eindruck machen. womöglich umschreibt dies wohlstandsunglück. die strenge der kleidung und der frisuren deuten indes darauf hin, daß diese kinder aus früherer jahrzehnten oder jahrhunderten kommen, also »vertraute Fremde« (hagedorn) sind. in »Natur« kontrastiert ein frühlingshaftes pflanzliches wuchern mit dem strengen scheitel eines jungen, der an ordnungsmacht gemahnt. »Elektro« zeigt eine marketingartig anmutende symmetrische welt mit einsamem kind und geisterhaftem gesicht, »Metro«, das metropolis anklingen läßt, eine zugleich selbstbewußt und nüchtern schauende junge nackte frau neben einem kind, vielleicht sie selbst einige jahre zuvor, in einer atmosphäre der sachlichkeit, »Labor« ein kindlich puppenhaftes mädchen oder gar ein kind als ergebnis eines laborversuchs, »Retro« einen jugendlichen nackten jungen mit einem hund, der künstlich anmutet. etwas reflektiert retrospektives haben viele dieser bilder. dabei steht mehr die betrachtung als die rückkehr im mittelpunkt, also das gegenteil von nostalgie, wobei französisch retour auch heimkehr und zuflucht bedeutet.

 

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Partiale, Katalog von Haimo Hieronymus. Gedichte von A.J. Weigoni. Edition das Labor 2016.

Alphabetikon, Katalog von Haimo Hieronymus, 2014.

Zyklop I, Fotobuch von Haimo Hieronymus, Edition Das Labor, 2018.

Zyklop_Detail

Zyklop I ist mit einer partikularen Sichtweise eine ebenso wunderbare, wie irritierende Erfahrung. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen, denn Haimo Hieronymus will unbestreitbar Schönheit schaffen und er will hier nicht weniger als von allem erzählen: Vom Großen, Ganzen, vom Kosmos, von der Schöpfung. Gar vom Leben selbst, indem er in die Vollen greift, ohne Angst, etwas falsch zu machen. Kunst erkennt man daran, daß sie das Ewige sichtbar macht, Bilder werden zu einem idealen Erkenntnismedium. Zyklop I ist ein sakrales Kunstprojekt ohne religiöse Dogmen.

Anfragen zu Zyklop I und den bibliophilen Kostbarkeiten über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.