Er weiß nicht, was soll es bedeuten

 

Wieder einmal hatte Herr Nipp die sogenannten Feiertage, jene angeblich besinnlichen Tage erfolgreich überbrückt, hatte ganz modern Cocooning betrieben. Aber schon einen Tag später war er durchaus bereit, den Fuß in die Öffentlichkeit zu wagen. In jenes vorgestellte Minenfeld der Eitelkeiten. Mit einigen Freunden sollte er tatsächlich auf eine jener mehr als seltsam wunderbaren Partys gehen, ganz abgeschieden im Hinterland. Irgendwo in einem alten Bauernhaus, welches ansonsten eher ungenutzt oder zu Proberaumzwecken in der Felderwüstenei herumstand. Herrliches Anwesen mit Weitblick über die Sauerlandschaft. Er wäre sofort und ohne weiter nachzudenken dorthin gezogen, hätte der Besitzer bei Angebot auch nur mit dem Auge gezuckt. Sogar ein kleiner Bach fließt munter durch die riesige Weidenwiese.

Wahrscheinlich kennt jeder solche Veranstaltungen. Da laufen unglaublich viele junge und vor allem coole Menschen herum. Viele Bärte, auch drei Tage nicht rasiert gilt hier als Bart, viele Kopfbedeckungen, viele Mädchen mit langen Haaren oder extremen Bubiköpfen. Allerorten Tattoos. Alles ist extrem, die um die Nase wehenden Düfte und starken Gerüche. Sie mögen sich jetzt vielleicht nicht unbedingt alle gut leiden, zeigen sich aber die allerfreundlichsten Gesichter. Alles ist gut, solange du nett bist. Herr Nipp gehört natürlich zu den beiden Gesichtsalten, wandelnde Faltenwürfe zwischen wunderschöner Jugendglätte. Wahrscheinlich ist er der einzige Glatzenträger dort, alle anderen sind mit üppigem Keratin bewuselt, tragen ihre Haarpracht mit Stolz. Viele Creative gibt es dort, Musiker sowieso, die machen zwischendurch auch ihre kleinen Konzerte hier, Konzerte, die Spaß machen. Einige bildende Künstler sieht man in der Ecke stehen, sogar ein Schauspieler wird gesichtet, die üblichen Designer, Medienleute und ein paar ambitionierte Architekten. Ein Kameramann, der sonst für das Theater arbeitet. Der Rest füllt sich durch Studenten und einige Schüler auf. Das richtige Gebrodel. Nachtleben eben. Man ist aus der Stadt auf das Land gegangen, für eine Nacht, das reicht, Hauptsache feiern.

Als Gebrodel kann man auch den Weihnachtspunsch bezeichnen, der dort gegen ein paar Silberlinge angeboten wird. Herr Nipp kann nicht genau sagen, was da alles drin ist, er weigert sich allerdings nach Erinnerung daran, was vor einem Jahr passierte, auch nur daran zu nippen. Schon die als besinnlich bezeichneten Aromen und Duftfragmente können allerhand Unfug anstellen mit den Sinnen, glaubt er. Da zückt er lieber den Flachmann, den er kürzlich geschenkt bekam, und gibt eine Runde Schnaps. Der ist zuerst mild, verbrennt dann allerdings die Strosse und kurz danach fühlt sich der ganze Magenraum an, als hätte jemand ein Kohlefeuerchen angezündet. Ganz rustikal Doppelkorn. Man möchte sich auch am liebsten direkt den Pullover ausziehen, zumindest aber die Jacke. Das allerdings ist nicht möglich, erstens würde eine solche Bewegung in der Enge der umstehenden Menschen einen Dominoeffekt auslösen und wahrscheinlich geriete die gesamte Gesellschaft ins Wanken, zweitens besteht nirgends die Möglichkeit irgendetwas hinzulegen. Und ein großes Schild verweist ganz unverblümt darauf: “Pass gefälligst auf deine Klamotten selber auf!”

In einem der kleinsten Räumchen spielt eine neue Band mit Namen Pansen. Der hört sich nicht gerade appetitlich an, immerhin sehen sowohl der Sänger als auch der Bassist so aus und „die ersten beiden Reihen stehen mitsingende Mädchen“ mit blitzenden Augen. Die zeigen, wie appetitlich die Beiden sind. Eigentlich, denkt Herr Nipp, ist es doch traurig, dass die heimlichen Stars des Abends es so gar nicht sehen können, wie sie angehimmelt werden. Sie sind von den Scheinwerfern geblendet und sehen nur eine schwarze Masse. Immerhin haben es gut dreißig Menschen in diesen viel zu kleinen Raum geschafft, der Rest hält sich nebenan auf, fläzt sich auf Sofas und lässt die Flaschen kreisen, Roséwein. Irgendwann werden auch diese erkennen, dass das der Wein der Unentschiedenen ist. Süffig, aber belanglos.

Der Sänger säuselt ins Mikrophon, der Gitarrist stammelt seine Worte dazu, dass er dabei nicht immer den richtigen Ton findet, macht die Sache schon wieder fast würzig. Immerhin beherrscht er drei Töne auf der Stimmtonleiter, richtig angeordnet kann man damit herrliche Melodien in die Welt blasen. Ja, manchmal kann Herr Nipp sogar den Wörtern folgen, teilweise scheinen ihm durchaus romantische Fragmente aufzutauchen, die er jedoch im Kontext kaum deuten kann, und hat seine Freude daran. Das Publikum geht mit, vielleicht abgesehen von zwei offensichtlichen Zwillingen, die gebannt, aber reglos da stehen. Auch sie scheinen ihre ganz eigene Freude zu haben. Sie scheinen die Welt in sich aufzusaugen und sich ihren eigenen Reim darauf zu machen. Der Kameramann neben ihnen wird sich irgendwann umdrehen und fragen, ob er noch einen Schluck aus dem Flachmann haben kann. Nach der vorgeplanten Zugabe leert sich der Raum auch schon wieder schnell, einige Zuschauer fachsimpeln noch mit den Bandmitgliedern oder sprechen einfach und direkt ihr Lob aus. Auch Herr Nipp gerät unbeabsichtigt in eine solche Situation mit dem Bassisten. Er erläutert, was gut gefiel, was nicht, man nimmt sich in den Arm, so muss das sein. Dicker Kuss auf den Mund und die Verabredung, dass man demnächst was zusammen macht.

Im nächsten Raum, einem ehemaligen Schweinestall wird jetzt Elektromusik gemacht. Keine Band, kein klassischer DJ. Da steht ein rotbekappter junger Mann und dreht völlig in sich vertieft an verschiedenen Knöpfen und entlockt dem Gerät seltsame verwunschene Klänge, die immer wieder von zerstückelten Beats gefranst werden. Jegliche aufkommende Bewegung wird wieder unterbrochen, aber die Anwesenden sind größtenteils begeistert. Einige Leute drehen mit seltsamen Kameras einen Film. Leuchtende Gesichter, aufflammende Lichter. Intensive Rauchfahnen wehen herüber. Auch hier wieder das Phänomen mit den glänzenden Mädchenaugen. Auch die folgenden Beastingbeats machen ein cooles Ding. Ein wogende Bewegung der Menge, alles wird immer enger, dann kommt auch der Gesichtsälteste, natürlich auch mit Schal und Kopfbedeckung, nimmt Herrn Nipp fest in den Arm. Gegenseitiges Verstehen. Ja, warum nicht, nicht das tatsächliche Alter zählt, sondern das innere.

Irgendwann steht er draußen und wird von drei Leuten mitgezogen, es geht nach Hause. Jemand wird seinen Wagen schon fahren. Die Zeit ist mal wieder verstrichen, als hätte es sie nicht gegeben. Wie das ganze Leben bisher. Er weiß nicht, was soll es bedeuten.

   

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421