Seine Bilanz ist mehr als beeindruckend: 20 Jahre lyrisches Schaffen der ganz besonderen Art. Unglaubliche Serien gekonnter Sprachjonglagen zwischen zwei eher konservativen und schlichten leinengebundenen Buchdeckeln.
Und gerade bei Jonglagen ist der Gleichgewichtssinn und die Fähigkeit zu fangen ebenso unverzichtbar wie für diesen Ausnahmelyriker, geschickt Worte zu präsentieren, ohne dabei sinnlose zu verlieren und darüberhinaus das Gleichgewicht zwischen sinnvoll und fantastisch zu wahren.
Kaum haben die Leser sich in den „Sperrbezirk“ – so heißt nach einem früheren Buchtitel Manfred Enzenspergers das erste Kapitel – hineingewagt, sind sie auch schon gefangen in dessen ureigener Sprachwelt, in einer, in die ich mich bisher nirgendwo sonst derart einlesen konnte.
„der text sagt, schreiben ist nicht bloß schreiben“. Schreiben seien „vermessungsakte zwischen wort und ding/mit tendenz zur guten gestalt ohne genormten/ maßstab“.
Und genauso kommen Enzenspergers eigenwillige Texte daher und spinnen Leserinnen und Leser schon nach den ersten wenigen Zeilen in ein Netz verführerisch anlockender Wortgebilde sowie ungewöhnlicher Metaphern und Sinnkombinationen ein. Und aus diesem Netz gibt es bis zum Ende des 335 Seiten umfassenden Gedichtbandes eigentlich kein Entrinnen mehr.
„was soll das mit der/änderungsschreiberei/nichts als baustellen/wir wollen weiter“. Und weiter kommen dieser Lyriker und seine faszinierten Leser mit einigen englischen und vorwiegend deutschen Gedichten, die jenseits der üblichen Wahrnehmungen eine andere Welt zu entdecken und zu verbergen helfen. „nun habe ich den schlüssel/ doch es fehlt mir die tür“. Aber dann ist plötzlich „überall sprachmorast versiffte signatur“.
Somit bleiben Autor und Leser gemeinsam Suchende, die immer wieder aufs Neue fasziniert von Wortbild zu Wortbild tastend fündig werden, wenn sie sich auf ein weites Feld nahezu unbegrenzter Assoziationen einlassen.
Dabei ist Enzenspergers eher spröde Sprache nie in Gefahr, künstlich oder gar kitschig zu wirken.
Und auch wenn der Germanist, Anglist und Erziehungswissenschaftler bei fast allen seinen Texten immer wieder durchscheint, kommt er dennoch nicht einmal pädagogisch belehrend oder gar besserwisserisch daher.
Seine Texte drängen sich nie auf, wecken aber durch ihre Geheimnisse stets aufs Neue Interesse.
Wer Deutsch oder Englisch sprechen will und das mit der Sprechweise dieses außergewöhnlichen Autors versucht, wird sich vom sicheren Festland auf kleine und größere Sprachinseln begeben müssen, die allerdings jegliche Idylle vermissen lassen. Dabei wird der weitgereiste Leser durchaus bekannten Orts- und Städtebezeichungen begegnen und sich vermutlich an Örtlichkeiten erinnern lassen, von denen ihn allerdings immer wieder lyrische Fantasien entführen.
Enzenspergers Titel „und wenn du aus dem haus gehst ist dort der tag“ ist zugleich Programm für Leser, die sich herauslocken lassen wollen, um sich in einem neuen Tag zu begegnen. Dabei müssen sie noch nicht eimal ausgesprochen Lyrik begeistert sein. Sie sollten aber die Bereitschaft haben, sich durch Experimente eines geschickten Sprachjonleurs begeistern zu lassen.
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Weiterführend →
Einen Artikel zum weiten Feld der lyrischen Landvermessung lesen Sie hier.