Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich ab. Hier kann man einen anbringen: Das multimediale Projekt 630 ist ein zeitgemäßes Gesamtkunstwerk. In diesem gattungsübergreifenden Buch / Katalog-Projekt wirken die bildende Kunst, eine Klangkomposition und die Literatur sinnfällig zusammen. Bei dieser Mixed-Media manifestiert sich eine Art der Grenzüberschreitung im Spiel mit den Gattungen: Auflösen, andersdenken, zersplittern und neu zusammensetzen. Es zeigt sich, daß Kunst nicht ausschließlich die Sache eines Einzelnen ist, sondern in einer Interaktion mit dem bildenden Künstler Peter Meilchen, dem Komponisten Tom Täger und dem Sprechsteller A.J. Weigoni geschieht. Sehen, Lesen und Hören öffnen sich in alle Richtungen. Töne, Wörter und Bilder hatten einander etwas zu sagen, sind sich auf kreative Weise zugetan.
Das Gesamtkunstwerk hat eine Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität.
Odo Marquard
Peter Meilchen liebte es, am Rhein entlang zu flanieren. Er fügte der Horizontale des Begehbaren meist die gedankliche Vertikale hinzu.
Peter Meilchen untersucht künstlerisch, welchen Einfluß die architektonische oder geographische Umgebung auf die Wahrnehmung, das psychische Erleben und das Verhalten hat. Seine psychogeographische Forschung findet dabei an der Schnittstelle der Fachgebiete Kunst, Architektur, Geographie und Psychologie statt. Bewegte Bilder treffen im Werk von Meilchen auf gebannte Augenblicke. Es sind Bilder, die zeigen, wie Räume und Landschaften auf die Menschen abstrahlen, sie säumen und prägen. Bilder, so schön, daß man manche zu Stillleben gefrieren lassen möchte. Was seine vielfältige Arbeit ausmacht, ist die Kunst der Selbstüberrumpelung, das Vermögen, sich stets neu zu erfinden. Zusammengeballt werden Zeit und Licht durch seine bearbeitete Photographie, er reduziert die Wirklichkeit auf Licht und schrumpft die Zeit auf einen Augenblick, den ausdehnungslosen Moment.
Der Augenblick des Verschwindens
Eine furiose Analyse des Bildes Las Meninas (Die Hoffräulein) des spanischen Malers Diego Velázquez diente Michel Foucault dazu, dem Westen die Krise der Repräsentation zu erklären wie einen Krieg. Foucaults Fragen gibt der 13.12. 1948 in Linz am Rhein geborene, und 27.10. 2008 in Arnsberg gestorbene, Peter Meilchen zurück an die Kunst:
Was ist eigentlich zu sehen?
Wer als Betrachter auf eine einfache Antwort hofft, wird vor Meilchens Arbeiten kapitulieren müssen. Es ist die Erschaffung einer Welt jenseits des realistischen Betrachtens, einer Welt, die allein vor dem inneren Auge existiert. Durch die Sinnlichkeit der Wahrnehmung gerät man in eine neu anmutende Wirklichkeit, es entstehen Bilder, Fragmente und Zustände; es ist, als schlüpft in diese Bilder hinein, bis in die letzte Pore des Photopapiers. Die analoge Photografie ist die Ikone des Realen. Es hat den Anschein, als ob diese analoge Photografie im Moment des digitalen Verschwindens noch einmal die Beschäftigung mit ihrer Geschichte herausfordert. Unweigerlich beginnen die Kunstwerke zu schillern, eine changierende Existenz einzunehmen zwischen unwägbaren Akteuren und befremdlichen Requisiten. Die Verwendung modernster Technologien und der Respekt vor dem Original widersprechen sich nicht. Im Gegenteil, die Technologie kann dem Objekt, dem Bild, zu einem wirkungsvolleren Auftritt verhelfen. In der Perpetuierung des Veränderlichen ist die Zeitlichkeit beschlossen – und mit ihr natürlich die Vergänglichkeit, das Abschnurren der Zeit, wie es in Meilchens Werk vorgeführt wird. Die Illusionsgeschichte hat sich von der Imaginationsgeschichte emanzipiert. Seine künstlerischen Arbeiten sind hochreflektiert, sie spielen mit den Genres ebenso wie mit der Geschichte der Photografie, der Geschichte und einer grundlegenden Unsicherheit. 630 ist keine Momentaufnahme von Realität, sondern eine komplexe Inszenierung in einem umfassenden gesellschaftlichen Umfeld.
Was kann ein Abbild leisten?
Wie viel Innenleben kann es nach außen kehren?
Solchen und ähnlichen Fragen hat sich Meilchen Zeit seines Lebens gestellt. Kunst hört auf, die Wahrhaftigkeit des Dargestellten zu behaupten. Es ist kein Beweis. Es geht um das Bild als die Wirklichkeit neben der gegebenen Wirklichkeit. Das lebendig geschossene Bild erscheint Sekundenbruchteile später tot auf der Leinwand. Die Auseinandersetzung mit dem photographischen Prozess und zunehmend den neuen digitalen Medien prägen das Spätwerk von Meilchen, etwa beginnend mit dem Multimediaprojekt Schland. So ist die Restauration von Schland als Resynchronisation zu verstehen, die Bild und Ton des Films, im vorliegenden Original gegeneinander verrutscht, wieder in den richtigen Bezug zueinander bringt. Auch die künstlerische Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Linz funktioniert quasi als „visuelles Sandwich“, bei dem unterschiedliche Bildschichten übereinandergelegt werden. Hier gibt es zwar keine offensichtlichen Übermalungen, dafür aber schraffierte Flächen, in denen die Richtungen der einzelnen Striche sichtbar sind. Meilchen inszeniert lokale Eskalationen, von der Umgebung unbeachtete kreatürliche Exzesse, Momente des Kontrollverlusts und der energischen Entfaltung, in denen sich das Archaische inmitten der Architekturen gegen jeden Ordnungswillen seine Bahn bricht. Sein alter Wegbegleiter Klaus Krumscheid hat diese Technik aufgegriffen und als Hommage das Titelbild des Katalog collagiert. Meilchen wusste, wie man Bilder komponiert, er geht mit seiner Kamera so dicht an die Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein – und zum Bild werden können. Sein Sehen ist kein Begaffen, sondern wurde existenziell vollzogen. So sind bei seinen Arbeiten eigenartige Verschiebungen entstanden, die eine Faszination auslösen.
Zustand der poetischen Konzentration.
Wir sind geübt darin, die Fragilität der Existenz in Bildern festzuhalten. Meilchen geht es um die Verwandlung der sichtbaren Welt ins Bild, er läßt sich Zeit, um von der Zeit eingeholt zu werden, indem er sich dem reinen Schauen hingibt. Sein Geheimnis bleibt es, wie er aus der gelassenen Betrachtung Funken hervorzaubert, wie aus Beiläufigkeit Farben entstehen. Es ist schwer zu sagen, was diese Bilder zu Resonanzräumen macht; ihr Echo hallt lange nach. Gleichzeitig haben die Aufnahmen eine Präsenz, deren unmittelbarer Appell wie ein Zauberstab wirkt. Seine Photographie stellt nicht nur die Frage der Ähnlichkeit, sondern die nach der Identität, seine Malerei wirkt gleichsam überbelichtet. Die Bilder balancieren Intensität, Farbton und Rhythmus aus. Es finden sich nicht-traditionelle Basiselemente, die Intensität hebt der Künstler durch Schattierung, Kontrastierung und den Einsatz von benachbarten Elementen mit unterschiedlichen Farbintensitäten heraus. Das Nebeneinanderstellen von Bildelementen mit der gleichen Farbintensität ruft eine symbolische Differenzierung hervor. Die Wahrnehmung der Farbe und des Farbtons ist subjektiv gewählt, ruft aber – was den in Ägypten spielenden Teil betrifft – unterschiedliche psychologische Effekte hervor. Einer Gesellschaft, die widerstandslos auf den Fortschritt einschwenkt, so diagnostiziert dieser Künstler, machen das kulturelle Unbewusste, die verdrängte Naturzugehörigkeit, der Körper, ein Wachstums- und Entfaltungswille den verdienten Strich durch die Rechnung. Die Bilder von Meilchen zwingen die Welt in den Paarlauf, unversöhnlich und untrennbar in eins. So sind all die Zwillinge oder Doppelgänger nur eine Übertreibung des Wunsches, auf Erden nicht ganz alleine zu sein. Es geht bei dem multimedialen Projekt 630 um einen Blick auf die Welt, der die Aporien des Selbst-Seins in Bildern der Poesie zelebriert.
Ut pictura poesis erit.
In den ästhetischen Debatten kehrt eine berühmte Sentenz wieder. Sie entstammt der Regelpoetik des Horaz. Damit meinte der antike Dichter, daß die Dichtung „wie Malerei“ auf den Leser zu wirken habe. Als „stumme Poesie“ oder „beredte Malerei“ gehörten in der Antike Kunst und Literatur so untrennbar zusammen wie einst Mann und Frau in Platons Urwesen, bis Gott die beiden Unbotmäßigen in zwei Teile auseinanderhieb – und die Gesellschaft heute die Geschlechter multipliziert. In der Unverstelltheit, dem Hybriden, Verrutschten, zu Forciertem scheint eine existenzielle Haltung durch, die das rechte Wort – den rechten Ton – das stimmige Bild – am rechten Fleck vereitelt und den Trug der sauberen Poesie nachhaltig beschmutzt. Der Mensch ist bekanntermaßen ein Augenmensch, der sich vornehmlich durch Sprache verständigt, das Buch / Katalog-Projekt 630 kann man mit allen Sinnen wahrnehmen.
Der Raptus vom Wort, eine atmende Reflexion.
„Akustische Maske“ nannte Elias Canetti das Prinzip, Figuren durch ihre Sprache plastisch werden zu lassen. A. J. Weigoni spürt der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach, man kann es nun auf dem Hörbuch nachhören. Reduktion, Konzentration und Klarheit: Diese Vignetten sind schmal, verdichtet, streng durchkomponiert und durchrhythmisiert. Dieser Sprechsteller gibt der Sprache einen Körper, verleiht ihr Gestalt und Kontur, er gehört damit zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Es geht um das Sprechen als eine körperliche Ausdrucksbewegung, die etwas anderes evoziert, als es die gedruckte Sprache könnte. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Weigoni verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Er zelebriert das Lesen als Sprachmelodiker.
Es ist ein geduldiges Einsammeln von Einzelheiten, die sich in epiphanischen Momenten zu diesem Projekt zusammenschließen.
Diesen Sprechsteller interessieren der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Verbindungen, das durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte Bild. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein.
Dem Fluiden kommt man nicht mit den Begriffen der Festkörperphysik bei.
630 ist reich an reflexiver Raffinesse. Aus isolierten Splittern der Sprachwelt setzt Weigoni konkrete Prosa zusammen. Dieser Romancier hat keinen Anlass, an eine festgeschriebene Identität oder eine erfundene Welt zu glauben. Die geschriebene Sprache ist immer eine Metapher für die gesprochene. Je „echter“ sie klingt, desto weiter entfernt ist sie in Wahrheit von der Umgangssprache. In den Vignetten transportieren sich die Wellenbewegungen der Flüsse Rhein und Nil in sinnlich geschwungene Bögen des Gesprochenen. Hier wird die Dialektik einer beschwörenden Sprachmagie sinnfällig. Er stellt sich der Herausforderung, von der Syntax der Ursprungssprache genügend Abstand zu nehmen, um den Text mit vergleichbarem Rhythmus in die andere Sprache zu übertragen. Seine Poesie besteht nicht aus schlichten Sätzen, sie offenbart sich in den Epiphanien einzelner Momente. Weigoni versucht in seinem Schaffen zum ästhetischen wie ethischen Imperativ, dem Niedergang der Kultur durch das Kunstwerk entgegenzutreten und in seiner Bewahrung vor der allgegenwärtigen Phrasenhaftigkeit die Ideale des Humanismus auch in dürftigster Zeit aufrecht zu erhalten. Jedes Wort steht da wie ein Kristall, durchsichtig, klar, scharf, hart und schön. Seine Figuren bewegen sich die ganze Zeit zwischen echt und unecht. Mit mehr poetischer Präzision läßt sich innere Regung kaum darstellen.
Absätze von betörender Ruhe und Sinnlichkeit gehen über in das Vorhaben das Wirkliche an der Wirklichkeit einzufangen.
In gleichmäßig zügigem Tempo, ohne Verweilen, ohne Luftholen gehen die Ereignisse voran. Jeder Satz ist eine kleine Überraschung. Hier entsteht das Geflecht der Leitmotive und Dingsymbole wie von selbst aus der Aufmerksamkeit für die realistischen Details. Die Hauptfiguren Nataly und Max sind tief ergriffen von der realen Gegenwart, dem Gefühl, daß alle Zeiten nur eine sind, daß sie in allen leben und alle in ihnen. Wie der Rhein in Caput I Mäander unmerklich zum Bedeutungsraum wird, so im 2. Kapitel uräus der Nil. Weigoni unterscheidet das Reisen nach Ägypten als Quelle der Erfahrung vom Reisen als Erleben. In dieser Reiseform ist das Movens der Reise die Ergründung der Geheimnisse der menschlichen Seele. Erreicht werden soll damit eine moralische Bildung. Das grundlegende Movens von Nataly und Max ist das Ungenügen an der Wirklichkeit, was in der Wüste den Reiz verliert, sobald sie erreicht ist. Das Ideal der unendlichen Sehnsucht als Grundbedingung eines erfüllten Lebens macht ihre Reiseform aus.
Musik macht uns die vergehende Zeit erst gegenwärtig und nachfühlbar. So wie die Literatur uns auf ‚die Suche nach der verlorenen Zeit‘ schicken kann, so öffnet Musik den Gegenwartsrahmen ins Vergangene und ins Künftige. Wenn ein Komponist einen Vorgänger motivisch aufgreift und zitiert, macht er einen Zeitsprung in die Vergangenheit. Wenn er uns Unerhörtes zumutet, versetzt er uns in die Zukunft. Zuhörend bewegen wir uns unweigerlich im Horizont der Zeit.
Iso Camartin
Es geht in 630 nicht um die Nachahmung von Kompositionsformen oder eine Lautmalerei avantgardistischer Wortmusik. Musik ist darstellbar, wenn sich ihre Strukturen und Formen sprachlich abbilden lassen. Die Wichtigkeit der Musik spiegelt sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene in Weigonis Texten wider. An mancher Stelle zeigt sich eine derartige Tiefe und Dichte in seinen knappen Sätzen, daß es nicht übertrieben ist, wenn man behauptet, der Poet arbeitet als Letternmusiker. Es ist ein Spiel. Und die Mitspieler Peter Meilchen und Tom Täger erweitern es zum multimedialen Projekt 630. Nichts an den Grenzverläufen zwischen den Künsten verstand sich für diese Artisten von selbst. Es ist erstaunlich, wie tiefenentspannt diese Individualisten das Ernste, Poetische, Komische und Philosophische zu einem Wahrnehmungsgebilde verbinden.
Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen.
Theodor W. Adorno
Sprechen ist immer ein Erfinden: Jeder Mensch erfindet die ganze Zeit alles, was er macht und ist, nichts daran ist authentisch oder vorgegeben. Es gehört zur Gratwanderung des Erzählens, daß der Ton getroffen wird, es müssen die Präzision der Sprache, der Rhythmus der Syntax und die Klarheit der Bilder zusammenkommen. Ergänzend zur Novelle Vignetten bietet das Hörbuch 630 eine potenzierte Intensität. Häufig ist der Tonfall des Geschriebenen wichtiger, als das Gesagte. Dank einer ausgebildeten Radiostimme erkennt Weigoni diesen Sound intuitiv und läßt den Rhythmus, die Satzmelodie in ihren Vortrag einfließen. Seit der Letternmusik geht es auf inhaltlicher Ebene um Musik, seine Rezitation trifft einen Tonfall und fügt sich auch bei 630 mit Unterstützung den Komponisten Tom Täger sowohl zu einer sprachlichen, als auch musikalische Komposition. Bei der sogenannten „verbal music“, bestehen gleichzeitig Form- und Strukturparallelen zwischen den Künsten und es ergibt sich Wortmusik, ein Klang der Signifikanten, der Musik imitiert. So erschafft er in Zusammenarbeit mit Tom Täger ein Hörbuch, das weit über die Eigenlektüre des Buchs hinausgeht. Es bleibt dem Publikum überlassen, aus den Assoziationsketten und Klangereignissen eine Aussage herauszuhören.
Ein Spezialist ist jemand, der mehr und mehr weiß über weniger und weniger.
Edward Said
Jeder Klang hat eine Herkunftsgeschichte. Eine Komposition, die aus vielen solcher Klänge zusammengesetzt ist, kann all diese Geschichten auf einer Metaebene erzählen. Täger ist ein hörender Produzent, er hört auf die Musik im Verein mit dem gessprochenen Text und entwickelt daraus seine Klangkomposition. In der knappen zwei Stunden seiner Komposition gibt es viele Feinheiten, Unterschiede zwischen Piano und Pianissimo. Tom Tägers Klang ist körperlos, schwerelos. Aus einem musikalischen Einfall heraus entwickelt der Komponist ein 24-teiliges Stück und verwandelt den Text in Klangzeichen. Der Hörspielkomponist verarbeitet das Thema dabei unterschiedlich, in Sequenzen, Transpositionen und Diminutionen kommen seine Inventionen zu 630 daher. Der Klang der Fremde trifft auf den Verlust von Erinnerung. Es ist eine komplexe Musik, die auf Texturen, Atmosphären und Rhythmus aufbaut; Ambient im besten Sinne. Wir hören dronige Synthesizer-Klänge und abstrakte Elektrotracks, die durch ihr treibendes, rhythmisches Fundament und die melodischen Muster an den Genredefinitionen rütteln.
Kontraste sind dabei für Täger selbstverständlich, die schwelgerische Melancholie gedeiht direkt neben krassen Dissonanzen, und die Intensität des Schrillen verstärkt diejenige des Stillen. Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien. Wie sich der Klang an den Rändern zum Verstummen bewegt, wird das Reisen, und sei es eines in die Wüste des versehrten Ichs, zu einem Akt der Vergeblichkeit, die Kreisbewegung führt zum Verlust von Verankerung und Identität. Täger verzahnt Wort und Ton mit harmonisch wirkenden Überblendungen von Sprache und Musik, dabei geht es jedoch nicht um falschen Naturalismus, vielmehr bleibt das Gemachte stets als Brechung und doppelter Boden spürbar, eine Selbstironie, die Komponisten aus dem deutschsprachigen Raum leider oft abgeht. In der Hörspielmusik dieses Soundtüftlers gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da unentwegt ein Energiefluß spürbar, es brodelt etwas.
Die Vertonung Tägers fügt – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führt an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Oft gibt es das Mißverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. Es gibt bei der Hörspielkomposition von Täger immer wieder Momente und Tracks, die hervorstechen, aber erst über die gesamte Dauer zeigt sich, wie sorgfältig er bei 630 eine Dramaturgie entwirft, die Genredefinitionen werden überschritten und über die gesamte Spieldauer bis an die Ränder zerdehnt. Dieses Hörbuch fordert aufmerksames Hinhören und ist – ohne zum schöngeistigen Geplätscher zu verkommen – ein sinniger Teil zu diesem Gesamtkunstwerk.
Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Victor Hugo
In diesem Buch / Katalog-Projekt transportieren sich die Wellenbewegungen des Stroms und der Strömung von Rhein und Nil in sinnlich geschwungene Bögen des Gesprochenen. Meilchens Bilder sind der Schlüssel zur Erinnerung, das Sinnbildliche wiederum ergibt sich, ähnlich wie in Benjamins Berliner Kindheit, gleichsam von selbst. Wer dieses Hörbuch mit dem Ohr mitliest, dem erschließt sich in der Musikalität der Sprache die Sinnlichkeit einer weit gewordenen Welt. Das multimediale Projekt 630 hat außersprachliche Quellen, es speist sich aus der Natur, durchströmt den Lauf des Lebens und weiß um jähes Versiegen oder Versickern. Und ähnlich wie der Rhein oder der Nil transportiert auch jede Metapher unsichtbare Ingredienzen: Erinnerungen, Rhythmen, Mythen und Klänge. Ritueller Minimalismus und musikalisches Geschichtenerzählen, irdische Schwere und geistige Leichtigkeit sind hier bruchlos miteinander verbunden. In dieser Komposition wird die Dialektik einer beschwörenden Sprachmagie sinnfällig.
Sterbend überschreiten wir Grenzen, die wir als Flüsse glauben, gehen hinüber: über die Styx, den Jordan, die Wupper, das Meer.
Barbara Köhler
Mit eigensinniger Wachheit nehmen Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni Anteil an den wesentlichen Ereignissen und Tendenzen des Zeitalters. Ein Gestus kooperativer Renitenz begleitete sie durch ihre gemeinsamen Arbeiten. Diese Artisten widersetzen sich in ihrem Künstlerdasein allen pragmatischen Zwecksetzungen und nobilitieren sich als Signum des Außenseitertums. Sie eint das Interesse am Gemeinsamen und das primäre Interesse am Besonderen, das durch die gemeinsame Arbeit entsteht. Das Mixed-Media-Projekt 630 erzählt von Gegensätzen, bis sich diese in eine einzige Utopie auflösen. Es ist die Verbindung mit etwas, das Finden von menschlicher Nähe in der Obsession, die Sehnsucht der Träume und die Ängste vor dieser Sehnsucht. All das ist so unwirklich wie das Leben selbst. Das Gesamtkunstwerk schafft eine Atmosphäre, die man als Leser / Hörer / Betrachter beinahe selber sehen, riechen und schmecken kann. Diese transmediale Buch / Katalog / Doppel-CD ist eine konkrete Auseinandersetzung mit den Orten der Lebenden und den Orten der Toten, wie sie sich zueinander verhalten, miteinander sprechen und worüber sie schweigen. Insbesonders die Hör-CDs haben eine Aura im Sinne von Walter Benjamin, als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, sie sind ein akustisches Erlebnis. Die melancholische Poesie klingt trotz des überwölbenden Themas nie schwer und theoretisch. Zwischen Linz und Luxor entsteht etwas, das als eine Art „assoziativer Klangraum“ bezeichnet werden kann, ein schwer zu fassendes Phänomen, eine Poesie, die eng verbandelt ist mit der offensten aller Künste, mit einem Ohrenzwinkern öffnet 630 die Augen für die Musik.
Mehr kann man nicht wollen. Auf weniger nicht hoffen. Die Kunst geht weiter. C’est tout.
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630, Buch / Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Bad Mülheim 2018.
Präsentation zur Jahresgaben-Ausstellung des Kunstvereins Linz (15. Dezember, ab 16:00 Uhr) als Booklet 630.
Bisher sind in der Edition Das Labor DVDs, ein Hörbuch und ein Roman von Peter Meilchen erschienen. Im Jahr 2014 erinnerte der Kunstverein in Linz mit einer Ausstellung an den Künstler, in der erstmals die Reihe Frühlingel vorgestellt wurde. Zu diesem Anlass erschien mit der Wortspielhalle eine Publikation, die als Role Model für dieses Buch / Katalog-Projekt dient, das zum 10. Todestag erscheint. Das Buch / Katalog-Projekt 630 gibt einen konzisen Überblick über die künstlerische Arbeit von Peter Meilchen in Linz und in der Werkstattgalerie Der Bogen.
Weiterführend →
Die romantische Idee des Gesamtkunstwerks überführt Enrik Lauer ins 21. Jahrhundert. Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.
Redaktionelle Anmerkung. Dieser Essay wurde in MATRIX #53 veröffentlicht. Die KUNO-Redaktion dankt dem Herausgeber Traian Pop.